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Kleines Porträt der Industriestädte Schlesiens

Wie ein unansehnliches Gewirr wirkt das oberschlesische Industriegebiet auf Landkarten. Städte, Fabriksgelände, Bahnlinien, Autobahnen, kein Anfang und kein Ende: Die polnische Antwort auf den deutschen Ruhrpott. Vor 150 Jahren war dies eine ländliche Gegend, dann fand man Kohle und Erz und plötzlich schossen die Städte aus dem Boden. Der Górnośląski Okręg Przemysłowy (Oberschlesische Industrieregion)steht gewiss nicht im Ruf, eine Schönheit zu sein. Aber auch die Hässlichkeit, die die industrielle Vergangenheit mit sich bringt, hat eindeutig ihren Reiz. Und letztlich findet man selbst hier eine Menge wirklich reizvoller Orte. Ein Streifzug durch die Industriestädte Oberschlesiens.

Katowice ist die Phönix, die aus der Asche entstiegen ist. Als ich an einem feuchten Wintertag 2005 dorthin reiste, kam ich mir als Katastrophentourist vor. Heute dominieren die Hipster. Die Innenstadt ist nicht widerzuerkennen. Der zentrale Platz (wie überall in Polen „Rynek“ genannt) erstickt nicht mehr im Verkehr, sondern lädt mit seinen künstlichen Weihern zum Verweilen auf Liegestühlen unter Palmen ein. In den angrenzenden Strassen pulsiert eine gastronomische Szene, auf die man aus schweizerischer Perspektive nur neidisch sein kann – ausgiebig genoss ich das asiatische und georgische Angebot. Die Architektur aus der Gründerzeit leuchtet im neuen Glanz, in einem ehemaligen Bergwerk ist das Schlesische Museum untergebracht: Selbst Touristen hat die Industriemetropole etwas zu bieten.
Nikiszowiec ist das Juwel von Katowice. Die Arbeitersiedlung entstand direkt nach der polnischen Unabhängigkeit, architektonisch wie aus einem Guss: Braune Backsteingebäude mit rot bemalten Fensterumrahmungen. Fast britisch mutet die Ortschaft an, in der jedes Haus auf den ersten Blick gleich aussieht, auf den zweiten Blick aber durch liebevolle Details wie den Hauseingängen einzigartig und unverwechselbar wird. Um den zentralen Platz gruppieren sich Kirche und – unter Arkaden – wenige Geschäfte und zwei Restaurants, beide mit hochwertiger Gastronomie. Nikiszowiec befindet sich wohl am Anfang der Gentrifizierung: Bisher finden sich erst wenige inländische Touristen ein. In fünf Jahren könnte er von Hipstern überlaufen sein.
Mysłowice, gleich nebenan, ist ein Schocker: Durch die zentralen Strassen zieht sich die abgesperrte Baustelle einer Tramlinie, die nie vollendet wurde. Passanten sieht man kaum, die meisten Läden sind geschlossen. Ein grosser Teil der Gebäude im Stadtzentrum steht leer, mit zugemauerten Fenstern. Offenbar sind ungeklärte Eigentumsverhältnisse dafür verantwortlich. Mysłowice wirkt post-apokalyptisch, die Aufbruchstimmung von Katowice ist hier Lichtjahre (aber nur 10 km) entfernt. Kein Wunder, befindet Mysłowice in jeder Rangliste der hässlichsten Städte Polens auf dem Podest. Grenztechnisch wäre der Dreikaiserstein spannend gewesen: Hier trafen vor dem 1. Weltkrieg Preussen, Russland und Österreich aufeinander. Leider habe ich den Wikipedia-Artikel erst nach meinem Besuch gelesen…
Zwischen Katowice und Sosnowiec verlief vor dem 1. Weltkrieg die preussisch-russische Grenze. Sie ist heute noch spürbar: In Sosnowiec fehlt die attraktive Architektur der preussischen Industriellen, dafür gibt es eine orthodoxe Kirche. Ansonsten macht die Stadt einen zusammengewürfelten und charakterlosen Eindruck. Am schönsten ist der frisch renovierte Bahnhof mit einem kleinen Park davor. Dieser ist menschenleer, da man ihn nur über die Bahnhofs-Unterführung erreicht.
Alleinstellungsmerkmal von Chorzów ist die Tatsache, dass eine Autobahnbrücke quer über den Rynek führt: einmalig in Polen. Der Platz wurde zwar etwas aufgewertet, dient aber primär als Drehscheibe für den Tramverkehr. Chorzów ist der Inbegriff einer Industriestadt: Strassenschluchten mit russgeschwärzten Mietkasernen, dazwischen die repräsentativen Stadthäuser der Fabrikbesitzer, am Horizont Kamine. An der Flaniermeile ul. Wolności ist die Architektur besonders attraktiv, die Post im preussischen Backsteinstil ist eine Kathedrale – sogar mit Turm.
Świętochłowice trug früher den schwerfälligen deutschen Namen Schwientochlowitz, obwohl das „Święty“ in polnischen Namen dem deutschen „Sankt“ entspricht. Doch einen Heiligen Chlowitz gab es nie, die Etymologie ist auch im Polnischen nicht klar, vielleicht ist gar nichts heilig hier. Dafür ist es gemütlich, es gibt ein paar Zeilen Backsteingebäude mit eher ländlich anmutenden Krämerläden, ein paar rote Backsteinkirchen und eine Tramlinie nach Bytom. Ich hatte Hunger, aber kulinarisch kann Świętochłowice nicht mit Katowice mithalten und da die Auswahl zwischen polnischer Pizza und polnischem Kebab bestand, entschied ich mich zum Picknick mit Kabanosy aus der Dorfmetzgerei.
Bytom hat den Grundriss einer historischen Stadt und viele alte Gebäude, aber ist dennoch hässlich. Der Krieg hat ein paar Schneisen in die Altstadt geschlagen, die mit lieblosen Neubauten ersetzt wurden. Was an alter Bebauung übrig ist, verlottert. Mittlerweile sind so viele Farbschichten abgeblättert, dass deutschsprachige Beschriftungen wieder zum Vorschein kommen. Der Rynek ist riesig und wird kaum genutzt: Wo in andern polnischen Städten Restaurants und Kneipen sind, findet man hier vernagelte Fenster. Die russgeschwärzten Häuser und Kirchen der Altstadt erinnerten mich an meine ersten Reisen nach Polen: In der schlesischen Provinz gibt es solche offenbar Orte noch. Schöner als der Rynek ist der Sikorski-Platz, mit liebevoll renovierten, farbigen Verwaltungsgebäuden aus preussischer Zeit und roten Trams, die in alle Nachbarstädte fahren.
Gliwice wirkt, als hätte man es aus einem anderen Teil Polens ins Industrierevier verpflanzt: eine gepflegte Altstadt mit frisch renovierten, farbigen Steinhäusern, in der Mitte der quadratische Rynek mit neuer kulinarischer Vielfalt, die Strassen voll mit Flaneuren. Das ist schön, aber nicht das, was ich in Oberschlesien gesucht habe. Deshalb fuhr ich nach einer Stunde weiter.
Nach Zabrze! Die quintessentielle Industriestadt verlockt mit einem einzigartigen Wirtshaus: Im Schaubergwerk „Guido“ befindet sich 320 Meter unter dem Boden ein Pub – mit eigenem Bier übrigens, das eine kleine Brauerei in Gliwice braut. Im Grubenschacht sackt der Lift rasant in die Tiefe. Glücklicherweise ist die Kabine offen, der Fahrtwind hilft gegen das Engegefühl. Am Ende eines Gangs öffnet sich plötzlich ein Gewölbekeller: Das Pub. Auf dem Rückweg mit zwei Bier intus wirken die Strassen von Zabrze noch viel spannender. Natürlich sind es die Klassiker Oberschlesiens: Backsteinhäuser, verrusste Fassaden, Gründerzeit-Stadthäuser. Mittendrin ein Platz mit einem bronzenen Bergarbeiter, der stark an sowjetische Vorbilder erinnert. Und gleich beim Bahnhof das „Flatiron Schlesiens“: Der weitherum sichtbare Admiralspalast, spektakulärste Architektur und leider ungenutzt.
Tychy ist bekannt für die grösste Brauerei Polens: Tyskie. Das alte Gemäuer der Brauerei mit einladendem Biergarten im Hof ist die einzige Attraktion von Tychy. Ansonsten ist Tychy grau, leer und völlig gesichtslos. Am Rynek gibt es kein Restaurant und keinen Laden. Beim Wasserspiel in der Mitte des Platzes fragt man sich, welchen Bezug die dargestellten Robben zu Tychy haben. Der Rest ist eine sozialistische Musterstadt, bestehend aus Plattenbausiedlungen. Diese haben nicht mal richtige Namen, sondern tragen Buchstaben: Osiedle A bis Osiedle X. Tychy ist eine Stadt ohne Zentrum, soll nun aber eins bekommen: Der Bevölkerung wurden verschiedene Pläne zur Abstimmung vorgelegt. Bis dahin bildet eine breite Schneise die Mitte der Stadt, in der die S-Bahn-Linie verläuft. Hier fand ich eine zweite Sehenswürdigkeit: Den stillgelegten Bahnhof Tychy Miasto, malerisch eingebettet zwischen überwachsenen Gleisen und verfallenen Treppen.
Wer Badetourismus im oberschlesischen Kohlebecken sucht, denkt sofort an Dąbrowa Górnicza. Hier kommt Ferienstimmung auf: Im See tummeln sich Schwimmer und Stand-up-Paddler, an der Strandpromenade kann man gemütlich ein Bier in der Abendsonne trinken oder ein absurd hoch aufgeschichtetes Świderki-Softeis kaufen. Im Rahmen der bergbauerischen Eingriffe in die Natur sind drei Seen entstanden, an denen man sich wie am Meer fühlt. Industriell-kreativ heissen sie Pogoria I, Pogoria II und Pogoria III. Mittelpunkt der flächenmässig grössten Stadt Oberschlesiens ist der Palast der Kultur und Bildung, der so ausschaut, als hätte man seinen grossen Bruder in Warschau nach dem 3. Stockwerk nicht mehr fertiggebaut.

REISETIPPS OBERSCHLESIEN

Öffentlicher Verkehr: Die schnellste Art der Fortbewegung ist die S-Bahn der Koleje Śląskie, die alle Städte ungefähr halbstündlich miteinander verbindet. Daneben gibt es (Express-)Buslinien und ein Tram-Netz, das sich über die gesamte Industrieregion erstreckt, von Gliwice bis Dąbrowa Górnicza. Ausserhalb von Katowice befindet es sich derzeit aber grösstenteils im Umbau. Eine 24-Stunden-Karte für alle ÖV-Angebote der Industrieregion kostet nur 24 Złoty (ca. 5.50 Fr./€), für das gesamte Netz der Koleje Śląskie (das bis nach Częstochowa und Wisła reicht) 38 Złoty.

Essen: Katowice ist ein kulinarisches Paradies mit ausgezeichnetem Essen von der ganzen Welt. Auch in der Altstadt von Gliwice ist das Angebot ansprechend. Im Rest der Industrieregion sind die kulinarischen Optionen hingegen wenig beeindruckend: Es dominieren Pizza, Kebab und Sushi. Es lohnt sich, die Mahlzeiten in Katowice oder Gliwice einzuplanen!

Trinken:  Wer Hipstercafés mag, wird in Katowice glücklich. Es gibt Kaffeeröstereien, Konditoreien und im Berliner Stil Frühstück den ganzen Tag. Abends geht man in die Dworcowa oder Mariacka, wo selbst am Montagabend kaum ein Tisch unbesetzt bleibt. Biergärten mit dem Angebot regionaler Kleinbrauereien, Cocktail-Bars und polnische Institutionen wie das „Ministerium für Heringe und Wodka“ gibt es zuhauf.

Unterkunft: Hotels gibt es in allen Städten, aber am idealsten ist die Lage an den Verkehrsknotenpunkten – also vor allem in der Umgebung des Hauptbahnhofs von Katowice. Natürlich ist es dort auch ein bisschen teurer.

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