Es war einmal ein Zug, der erfreute nicht nur Bahnfans, sondern ganz besonders Grenzfans. Der Zug hiess Nusaybin Karma. Der Name spielt nicht auf ein spirituelles Konzept im Buddhismus an, sondern auf seine Zusammensetzung: «karmak» bedeutet im Türkischen «mischen». Nusaybin ist eine Grenzstadt im Südosten der Türkei, zusammengewachsen mit dem syrischen Qamişlo. Der Nusaybin Karma war also ein Mischzug dorthin, bestehend aus Personen- und Güterwagen.
Das weltweit einzigartige an dem Nusaybin Karma war, dass er auf der Staatsgrenze fuhr. Nicht entlang, sondern wirklich auf der Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Wobei, ganz einzigartig ist das vielleicht nicht, es dürfte ein paar weitere kurze Bahnstrecken auf Grenzen geben. Doch keine ist so lang wie diese. Über unglaubliche 324 Kilometer verkehrte der Nusaybin Karma direkt auf der Grenze, von der Euphrat-Brücke in Karkamış bis zum damaligen Endbahnhof in Nusaybin.

Im Frühling 2008 nutzte ich eine Reise nach Südost-Anatolien für eine Mitfahrt mit diesem sensationellen Grenzexpress. Um 7 Uhr morgens stand er am Bahnhof von Gaziantep bereit, bestehend aus einem Postwagen, einem Passagierwagen und etwa zehn roten Güterwagen. Die Fahrt nach Nusaybin sollte rund 12 Stunden dauern – mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von gerade mal 35 km/h. 2008 war er der einzige Zug auf der Grenzstrecke. Er verkehrte nur an drei Tagen pro Woche.
Die Strecke ist ein Teil der legendären Bagdadbahn. Sie entstand zur Zeit des Osmanischen Reichs, um Istanbul mit Konya, Adana, Aleppo und Bagdad zu verbinden. Klingende Namen, die man heute aber vor allem aus Kriegsberichten kennt. Und tatsächlich ist die Vergangenheit der Bagdadbahn stark von Kriegen geprägt. Der 1. Weltkrieg kam der Vollendung zuvor, danach zerfetzte die neue Grenzziehung zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak die Streckenführung. Erst 1940 konnte erstmals ein Zug durchgehend von Istanbul bis Bagdad fahren. 1985 war schon wieder Schluss damit. Die teure Ingenieursleistung hat sich also letztlich nicht so gelohnt.

Die ersten 91 Kilometer meiner Fahrt führten durch das türkische Inland, von den Vororten Gazianteps durch trockenes Hügelland bis zum Grenzort Karkamış. Die Personenwagen waren fast leer und ich wunderte mich, wie die türkische Bahn den Betrieb dieser Strecke überhaupt bezahlen konnte: Für die 12-stündige Reise hatte ich gerade mal 5 Euro bezahlt. Wahrscheinlich wollte die Türkei aus geostrategischen Gründen den Betrieb dieser exponierten Linie nicht aufgeben.

Am späteren Vormittag erreichte der Nusaybin Karma den Grenzbahnhof Karkamış. Von hier aus führt eine Bahnlinie in westliche Richtung nach Aleppo, eine andere nach Mosul und Bagdad im Osten. Der Kreuzungsbahnhof zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak! Die Strecken nach Aleppo und Mosul/Bagdad verlaufen haargenau auf der Staatsgrenze. Der Grund dafür ist, dass die Bahnlinie älter ist als die Grenzziehung. Als nach dem 1. Weltkrieg unter anderem die Türkei und Syrien als Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs entstanden, legte man die Grenze in den Verträgen von Ankara (1921) und Lausanne (1923) fest. Mangels natürlicher Merkmale der flachen Landschaft verständigte man sich darauf, den Verlauf der Bagdadbahn als Grenze zu definieren. Der Betrieb der Bahn fiel aber allein an die Türkei, ebenso die Bahnhöfe beidseits der Bahnlinie – hier weicht also die Grenze jeweils ganz leicht von der Bahnlinie ab.
Die Schritte schwerer Stiefel waren nun plötzlich im Korridor zu hören. Eine Kolonne Soldaten bevölkerte in Karkamış den bis anhin fast leeren Zug. Sie schauten in jedes Abteil und gaben barsch Anweisungen: Fenster nicht öffnen, fotografieren streng verboten. Ich befürchtete, dass nun jedes Abteil einen Aufpasser bekommen würde, doch dem war glücklicherweise nicht so. Nach kurzem Halt rumpelte der Nusaybin Karma wieder los, über die 800 Meter lange Euphratbrücke und dann endlich auf die heiss ersehnte Grenzstrecke.

Viele Stunden lang blieb ich auf der Grenze. Aus dem rechten Fenster sah ich Syrien, aus dem linken die Türkei. Ich sass ganz rechts im Zug, auf der spannenderen syrischen Seite, das war ohne Visum erlaubt. Immerhin war es die Aussengrenze der NATO zu einem feindlich gesinnten Staat, Assads Syrien (auf manchen Grenzpforten stand es wirklich so: „Welcome to Assad’s Syria“). Jede einzelne Sekunde der gemächlichen Fahrt fühlte sich grenzwertig an, denn aus dem linken und dem rechten Abteilfenster bot sich ein komplett gegensätzlicher Anblick.

Die türkische Seite: Stacheldraht, fein geharkte Kiesflächen, hohe Zäune und Wachtürme. Da sich die Grenze auf dem Bahndamm befindet, blieb der Türkei nichts anderes übrig, als die Grenzbefestigungen auf seiner Seite der Bahnlinie aufzubauen. Menschen waren hier weit und breit keine in Sicht, auch die Vegetation war spärlich und karg: das Militär brauchte den Überblick.

Welch wohltuender Kontrast zu dieser martialischen Landschaft bot das liebliche Syrien! Hier reichten die grünen Felder der Kleinbauern direkt bis an die Gleise, überall sah man Frauen und Männer bei der Feldarbeit, oft begleitet von spielenden Kindern. Wo immer der Zug passierte, winkten die Bauern frenetisch, und wir Zugspassagiere zurück. Wie die Bewohner der Dörfer und Städte auf der türkischen Seite und auch die Zugpassagiere sind die syrischen Bauern hier fast ausschliesslich Kurden – ein Volk, das durch diese künstliche Grenzziehung aufgeteilt wurde. Die Dschazira-Ebene gehört zu den fruchtbarsten Ecken Syriens, die Einöde auf der türkischen Seite ist rein militärisch bedingt.

Auch die Architektur sah auf beiden Seiten der Bahngleise komplett anders aus: Links die Beton- und Ziegelwürfel der türkischen Dörfer, offensichtlich alle neueren Datums. Ältere Gebäude haben sich kaum erhalten, im Zuge der Modernisierung hat die Türkei enorm viel historische Bausubstanz zerstört. Nicht so auf der syrischen Seite, wo die niedrigen Gebäude in traditioneller Lehmbauweise weiterhin überwogen. Syrien sah ärmer aus, aber auch schöner.

Alle 20 bis 30 Minuten rumpelte der Zug in eine Station, an der bis auf einen kurzen Wortwechsel zwischen Kondukteur und Stationsvorstand meist nichts passierte. Keine Überraschung: Die meisten Bahnhöfe bedienten kleine Dörfer auf der türkischen Seite, während sich die eigentlichen Städte in Syrien befanden. Eine davon war Ras al-Ayn, das wenige Jahre später unter seinem kurdischen Namen Kobanê tragische Berühmtheit erlangte.
Meist befanden sich direkt am Bahnhof Grenzübergänge für Fussgänger und Autofahrer: Auf der türkischen Seite lange „TÜRKİYE“-Spruchbänder und Atatürk-Porträts, die das Konterfei des syrischen Diktators Bashar al-Assad auf der syrischen Seite beäugten. Alles war scharf bewacht, mit Kameras, Mauern, Stacheldraht und Türmen. Kaum jemand überquerte die Grenze, fast alle Grenztore waren geschlossen. Einzige Ausnahme war Akçakale, wo der Grenzübergang nach Tall al-Abyad offen war.

Einmal bückte sich ein syrischer Bauer aus seinen Ackerfurchen und machte mit der Handykamera ein Foto vom Zug – gerne hätte ich diese Szene selbst festgehalten, doch leider stieg in Şenyurt eine Gruppe Militärs ein, der es dann doch gelang, jeden einzelnen der noch vorhandenen Passagiere – neben dem meinigen waren nur noch zwei weitere Abteile belegt – zu überwachen und so das Fotografieren strikt zu unterbinden. Mein Aufpasser liess es nicht dabei bewenden, sondern notierte sich meine Personalien und musterte dann mein Notizbuch genau. Ich hatte mir darin den Fahrplan mit allen Haltestellen notiert, dies war verdächtig. Zum Glück konnte er kein Englisch und ich verstand die meisten seiner Fragen nicht. Als ich auf die Toilette musste, kam er mit und wartete vor der Tür, bis ich mein Geschäft verrichtet hatte. So verpasste ich einige tolle Aufnahmen im Abendlicht…

Kurz vor dem Ziel in Nusaybin befahl mir mein Aufpasser, mich auf den mittleren, von den Fenstern am meisten entfernten Sitz zu setzen. Ich hielt diese Geheimniskrämerei für reichlich übertrieben, wurde es nun doch langsam dunkel und verliess der Zug die Grenzstrecke, um wie ein Tram durch die Strassen von Nusaybin zu holpern. Doch bald schon leuchtete auch mir der Grund dafür ein: Von allen Seiten hagelte es Steine an die Zugsfenster. Kinder standen am Strassenrand und jagten mit grosser Freude den Zug.

Nusaybin ist eine hässliche, staubige Stadt ohne Sehenswürdigkeiten. Etwas verloren stand ich am Bahnhof, der nicht gerade zentral gelegen ist. Dies war noch die Zeit vor dem Smartphone, ich hatte keinen Stadtplan und wusste nicht, wo ich hier ein Hotel finden konnte. Die wenigen Bahnarbeiter am Bahnhof sprachen Kurdisch und taten, als würden sie kein Türkisch verstehen. Schliesslich sprach mich ein Mann an, der als Gastarbeiter in Rumänien die dortige Sprache gelernt hatte, und fuhr mich auf dem Rücksitz seines Motorrads zum wohl einzigen Hotel im schon völlig menschenleeren Stadtzentrum.

Der Nusaybin Karma verkehrte noch ein paar Jahre weiter. Im Februar 2010 kam sogar ein Zug Gaziantep – Mosul dazu und es wuchsen die Hoffnungen auf eine Wiederauferstehung der Bagdad-Bahn. Doch schon einen Monat später wurde die Verbindung wieder eingestellt. Das Ende für den Nusaybin Karma kam im November 2014: Die Eskalation des Konflikts in Syrien liess den weiteren Betrieb der Strecke» nicht mehr zu. «The line is not expected to open until the conflict in region is solved», berichtete damals ein türkisches Portal. Und dabei ist es geblieben.
