Grenzen sind toll, wenn man sie sehen, spüren und erleben kann. Leider kann man das von den Grenzen auf den britischen Inseln nicht sagen. Sie sind kaum sichtbar, nur der Insider erkennt sie. Die inner-irische Grenze hat immerhin eine turbulente Vergangenheit, die englisch-schottische Grenze vielleicht eine turbulente Zukunft, falls sich die Schotten dann doch noch für die Unabhängigkeit entscheiden. Aber England-Wales? Es ist die unscheinbarste dieser unscheinbaren Grenzen, auf den ersten Blick zumal. Auf den zweiten Blick offenbaren sich auch hier tolle Geschichten, denn Grenze bleibt Grenze, die Hauptattraktion jeder Landschaft.

Am attraktivsten sind immer geteilte Ortschaften. So eine gibt es auch hier: Llanymynech heisst sie. Die Grenze verläuft mehrheitlich auf der Hauptstrasse – die westliche Dorfhälfte ist Wales, die östliche England. Damit sich auch niemand irrt, hängen am Pub auf der englischen Seite zwei prominente Fahnen: der Union Jack und das englische Georgskreuz. Selbstverständlich sind es die Pubs, die die Grenzlage am besten illustrieren. Früher gab es den ‘Lion’ direkt auf der Grenze, der zwei Tresen in England und einen in Wales hatte. In Wales war damals der Alkoholausschank am Sonntag verboten, weshalb sich die Trinker nur auf der englischen Seite des Pubs aufhalten durften. Die Sonntagsprohibition und der ‘Lion’ sind längst Geschichte, dafür kam die Pandemie und machte die Grenze wieder sichtbar. Wales hatte deutlich restriktivere Massnahmen als England und so kam es, dass der walisische ‘Dolphin’ schliessen musste, während zwei Häuser weiter der englische ‘Cross Keys’ nicht nur die walisische Dorfhälfte, sondern das gesamte Umland bewirtete. Die Presse belagerte Llanymynech und versuchte, dem Delfinwirt ein böses Statement über Covid-Massnahmen oder wenigstens die Engländer zu entlocken, doch dieser blieb stoisch und fand sich mit der Situation ab.

Ganz anders am Ortsrand, wo zwei Schilder die Grenze markieren: «Welcome to England» und «Croeso i Gymru». Jemand, der sich mit dem Brexit nicht abgefunden hat, hat eine EU-Flagge auf das England-Schild geklebt. Doch auch das Wort «England» ist mit grüner Farbe übermalt, vielleicht weil das ganze Dorf besser zu Wales gehören sollte? Selbst das walisische Schild ist vor politischer Nörgelei nicht gefeit, «No Cymru» verkündet hier ein Sticker, der sich gegen eine (hypothetische) Unabhängigkeit von Wales richtet. Hat Llaymynech doch Potential als Zankapfel?

Während der Pandemie gab es ein zweites Highlight für die Medien: den Golfplatz von Llanymynech, der man über eine kurze Kletterpartie durch einen stillgelegten Steinbruch erreicht. Er rühmt sich, der einzige internationale Golfplatz Europas zu sein, was wahrscheinlich nicht stimmt. Fast alle Löcher liegen in Wales, nur zwei sind in England – und eine Bahn überquert tatsächlich die Grenze. Natürlich fragte sich die ganze Welt während der Pandemie: wie schlagen nun die armen Golfer ihre Bälle aus dem liberalen England ins Nachbarland, das sich im Lockdown befindet?

Rund um den Golfplatz hingegen gibt es keine Grenzen. Die Wanderwege führen direkt aufs manikürierte Grün, wo man sich erst mal völlig fehl am Platz fühlt. Eine gut sichtbar aufgehängte Landkarte zeigt aber, wo «public rights of way» – öffentliche Wegerechte – durch den Golfplatz führen. Nämlich eigentlich so gut wie überall. Die Wegerechte sind ein Kulturgut in England und sicher viel älter als der Golfplatz. So machte ich mich auf die Suche nach dem internationalen Loch. Einige Golfer quittierten dies mit bösen Blicken und Fäusten in der Hosentasche (gleiche Reaktion wie man in der Schweiz erwarten würde), einer wies mich zurecht. Im Wissen, völlig legal zu handeln, war das ein Genuss. Die Grenze fand ich dann in Form einer Sitzbank vor, garniert mit den Flaggen der beiden Länder an den Armlehnen und dem Slogan «Putt in England – drive in Wales».



Von Llanymynech aus führt ein Wanderweg auf dem Wat’s Dyke nach Norden. Der Wat’s Dyke war im Mittelalter, bevor sich Wales England unterwerfen musste, der Grenzwall zwischen den beiden Ländern. Der Wanderer kann sich dies heute schwer vorstellen: der einstige Wall ist eher eine dichte Hecke geworden, an einigen Stellen sogar ein zur Zeit der Industrialisierung errichteter Kanal, auf dem nur wenige Langboot-Kapitäne die Einsamkeit suchen. Der Wat’s Dyke ist auch keine Grenze mehr. Sie verläuft jetzt einige Kilometer westlich. Die Grenze hat sich also zugunsten Englands verschoben, wobei das neugewonnene Gebiet immer noch eine Grauzone ist.

In dieser Grauzone liegt das Städtchen Oswestry, auf Walisisch Croesoswallt genannt (auch wenn die Namen nicht ähnlich klingen, gehen beide auf einen gewissen Oswald zurück, dem auch die Kirche geweiht ist). Sie gilt als die am meisten walisische Stadt Englands. In der Fussgängerzone gibt es ein Geschäft namens Siop Cwlwm mit Büchern, Karten und Geschenkartikeln in walisischer Sprache. Mike Parker hat der englisch-walisischen Grenze ein ganzes Buch («All the wide border») gewidmet und beschreibt darin, dass noch vor einer Generation die Mehrheit der Bevölkerung von Croesoswallt einen Anschluss an Wales befürwortet hätten. Jeder vierte Einwohner spricht offenbar weiterhin Walisisch – das ist deutlich mehr als in vielen Städten in Wales.

Wirklich grenzwertig ist der Fussballverein, der seine Heimspiele in Oswestry austrägt. Er ist das Fusionsprodukt aus den Vereinen TNS Llansantffraid-ym-Mechain aus Wales und Oswestry Town in England, repräsentiert also Städte in zwei Ländern. The New Saints nennt sich dieser Verein, der in der obersten walisischen Liga (Cymru Premier) mitspielt und dort sogar Rekordmeister ist – trotz der Lage seines Stadions! Oswestry ist wirklich Grauzone. Im bescheidenen Llansantffraid-ym-Mechain sind die nach England umgezogenen Millionarios aber nicht bei allen beliebt, ähnlich wie in Salzburg hat man einen neuen Verein gegründet, der die echte Tradition fortleben lässt.

Ein Besuch im Park Hall Stadium zeigt derweil, dass auch The New Saints eher kleine Brötchen backen. An diesem Samstag empfangen sie Barry Town, den nach TNS zweiterfolgreichsten Verein von Wales. Die vielversprechende Affiche zieht ganze 216 Zuschauer an, darunter drei oder vier Gäste aus Barry. Dennoch ist die Gästekurve weitaus stimmgewaltiger als die TNS-Fans. Zwischendurch unterhalten sie sich mit den Einheimischen darüber, wie lange die Anreise gedauert hat und wie das Wetter unten in Barry ist. Eine beschauliche Atmosphäre wie auf einem Rheintaler Tschuttplatz, nur dass TNS auch international spielt: Im Spieler- und Zuschauereingang (es gibt nur einen) hängt ein grossformatiges Bild von einem Europacup-Auswärtsspiel in Gibraltar. OK, die Rheintaler Dorfvereine spielen immerhin gelegentlich in Liechtenstein.

Als Gegenstück hat übrigens der englische Verein Chester Town sein Stadion direkt auf die englisch-walisische Grenze gestellt: die Haupttribüne in England, das Spielfeld in Wales. Zur Zeit unterschiedlicher Covid-Massnahmen in Wales und England gab das ordentlich Ärger, der dazu führte, dass manche Engländer zum ersten Mal überhaupt wahrnahmen, dass es eine englisch-walisische gibt. Diese und ähnliche absurde Geschichten dieser auf den ersten Blick unscheinbaren Grenze habe ich im erwähnten Buch «All the wide border» gelesen, 2023 publiziert, auf das ich zufällig am ersten Reisetag in einer Londoner Buchhandlung gestossen bin. Es hat meine Reise in die Grenzregion erheblich aufgewertet – diolch yn fawr iawn!

