
An Benidorm scheiden sich die Geister. Für die einen ist sie der Inbegriff der Verschandelung der spanischen Mittelmeerküste, für andere ein Urlaubsparadies der Superlative: Benidorm hat die höchste Hochhausdichte ausserhalb von New York, beherbergt die meisten Wolkenkratzer Spaniens und mit dem 2021 fertiggestellten Intempo das höchste spanische Gebäude ausserhalb Madrids. Stolz nennt sich Stadt – eigentlich nur eine mittelgrosse Stadt in der Provinz Alacant – „New York Europas“.

Benidorm hat klein angefangen, und das ist nicht mal lange her: Bis in die 1960er Jahre war es ein Fischerdorf mit rund 3000 Einwohnern. Eine Malerei in der Dorfkirche Sant Jaume zeugt von dieser Zeit. Dann entdeckte der Tourismus die spanische Küste. Benidorm wollte an vorderster Front mitmischen, entwarf Bebauungspläne und pflasterte seine traumhaften Strände innerhalb weniger Jahre mit mit abscheulichen Betonburgen voll. Heute zählt Benidorm immer noch erst bescheidene 70’000 Einwohner, doch zur Hochsaison schwillt die Stadt dank der riesigen Hotelkapazitäten auf mehr als eine halbe Million Menschen an.

Die Geografie Benidorms ist simpel: Es gibt zwei jeweils zwei Kilometer lange, perfekte Strände. Sie haben den obersten Gütesiegel der EU (sowas gibt’s, natürlich, die „blaue Flagge“) und werden wie Skipisten jeden Morgen frisch präpariert. Die Strände heissen Platja de Ponent (westlicher Strand) und Platja Llevant (östlicher Strand), dazwischen liegt der alte Ortskern. Das östliche Ende ist fest in britischer Hand, am westlichen Rand urlauben die Spanier (also die kastilischsprachigen Touristen und ein paar Basken und Gallegos, nicht die valencianischsprachigen Benidormer). Je näher dem Zentrum, desto mehr vermischen sich die beiden Gruppen, wobei die Altstadt nicht nur den Einheimischen gehört, sondern auch der Gay-Szene, wie zahlreiche mit Regenbogen beflaggte Bars unschwer erkennen lassen.




Der Partybezirk am Carrer de Girona ist das Las Vegas der Briten: Blinkende Leuchtreklamen locken in Pubs und Bars. Namen wie „Queen’s Arms“ oder „The Red Lion“ erinnern an gemütliche Lokale in englischen Highstreets mit Chesterfield-Sofas und Cask Ales. Die Namen sind aber das einzige, was sie mit diesen verbindet – nicht einmal das Cask Ale, wie ich enttäuscht feststellte. Die Benidormer Pubs bieten Lärm und Klamauk, jede Menge billiges Lagerbier und Live-Shows wie „every night at 12 am – Take That Ultimate Tribute“.


Ein spanischer Freund hatte mir geraten, in Benidorm unbedingt die lokalen Spezialitäten zu probieren: Guinness und Fish and Chips. Das wollte ich mir keineswegs entgegen lassen und setzte mich darum am Abend ins „The Crown Pub“. Ich genehmigte mich ein (viel zu kaltes) Guinness und entschied, auf das kulinarische Angebot doch eher zu verzichten, weil es zu abschreckend aussah. Das Durchschnittspublikum war eindeutig britisch und eindeutig jenseits der sechzig, denn Benidorm ist nicht das britische Pendant zum Ballermann (der ist in Magaluf), sondern ein Rentnerparadies. Der Stimmung tat dies keinen Abbruch, denn die britischen Rentner becherten ordentlich. Die meisten älteren Pärchen an den anderen Tischen bestellten sich im Halbstundentakt preiswerte Kübel mit jeweils fünf gekühlten Bierflaschen, sodass ich mir wie ein Abstinenzler vorkam, als ich darauf wartete, dass mein Guinness wärmer und geniessbarer wurde. Das absolute Highlight im Anschluss an die Übertragung eines Fussballspiels: der Live-Auftritt von ‚Jonny Hellraizer‘, einem etwas in die Jahre gekommenen Heavy-Metal-Frontmann. Mit seinen unverblümt fluchenden Ansagen – durchaus witzig, britischer Humor halt – eroberte er die johlenden Rentner im Sturm.

Wenig überraschend ist das Transportmittel der Wahl im britischen Teil Benidorms der „Scooter“, der den Rentern in der weitläufigen Küstenstadt allzuviel Bewegung erspart. Sogar Tandem-Scooters für Paare gibt es. Nur aus Faulheit darf man sie sich aber nicht mieten, die Werbetafel eines Vermieters verfügte streng: „Mobility scooters only for people over 55 years old.“

Bei meinen spanischen Freunden gehen die Meinungen zu Benidorm weit auseinander. Manche empören sich (wie die meisten Schweizer) über die Zerstörung der einzigartigen Küstenlandschaft an der Costa Blanca und meiden den Ort, den sie eher als britische Stadt wahrnehmen. Andere machen selber Ausflüge oder sogar Urlaub in Benidorm und rühmen den perfekten Strand und die gute Infrastruktur. Und tatsächlich: an der Platja de Ponent sind die Spanier fast unter sich. Hier und auch im Stadtzentrum gibt es ansprechende Tapas-Lokale, gemütliche Cafeterias und einfache Bars mit kühlem Bier – als wäre man im „richtigen“ Spanien.

Die Platja de Ponent wurde erst in den letzten Jahrzehnten dicht bebaut und ist darum moderner als der britische Teil der Stadt. Prunkstück ist der 187 Meter hohe Intempo-Wolkenkratzer, das höchste Gebäude Spaniens ausserhalb Madrids. Erst 2021 fertiggestellt, ist er auch ausserordentlich hässlich, die Farbgebung erinnert an den Trump Tower. Wie üblich bei solchen Türmen ist die Aussicht von der Spitze am schönsten, da man von dort aus den Turm selbst nicht sieht, aber meine Vorfreude wurde enttäuscht: es ist ein reiner Wohnturm ohne eine Bar oder Aussichtplattform für die Öffentlichkeit.

Deshalb genoss ich dann den leicht apokalyptisch wirkenden Sonnenuntergang am Strand, der schon wieder fast menschenleer war.
