
Die Reise beginnt im hintersten Winkel des ehemaligen Ostpreussens, im einstigen Lyck, das heute Ełk heisst. Bevor die deutschen Ordensritter eintrafen, lebten hier die Jatwinger, ein heidnischer baltischer Stamm. Vor 800 Jahren eroberten die Ritter die Gegend, unterjochten die Jatwinger und bauten ihre Burg auf einer kleinen Insel mitten im See. Diese Burg steht heute noch, beziehungsweise die Ruinen ihrer Nachfolgebauten, denn sie ist zu einem ausgesprochen malerischen Lost Place geworden. Die Innenräume sind farbenprächtig, wenn auch nicht im ursprünglichen Sinn:



Abgesehen von der verlassenen Ritterburg gibt es in Ełk nicht sehr viel zu sehen, aber die Lage am See ist prächtig und im Sommer strömen die Inlandtouristen zu Badeferien hierher. Jetzt, im März, präsentiert sich das Städtlein aber ziemlich ausgestorben. Die Pop-up-Lokale für den Sommer sind noch alle eingepackt. Darum machte ich mich auf, die restlichen Teile des einstigen Lands der Jatwinger zu erkunden. Dieses ist heute ein geopolitisch heisses Grenzland. Es heisst auf Deutsch Sudauen, auf polnisch Sudowia oder Suwalszczyzna und auf Litauisch Sūduva/Suvalkija. Sūduva, nebenbei, ist auch der Name einer der erfolgreichsten Fussballmannschaften Litauens aus der Stadt Marijampolė.

Die erste „Grenze“ befindet sich noch innerhalb Polens, zwischen Ełk und Suwałki: Letzteres gehörte einst – also zur Zeit der polnischen Teilung – nicht zu Ostpreussen, sondern zum russischen Reich. Die Teilungszeit prägte Polen so fundamental, dass die Grenzen bis heute spürbar sind. So dominieren im einstigen Preussen Backsteingebäude, im russisch besetzten Landesteil Holzhäuser. Auffällig ist die Infrastruktur: noch heute sind Bahnlinien und Strassen im preussischen Teilungsgebiet deutlich dichter als im russischen (und österreichischen). Deshalb ist dieses wirtschaftlich auch entwickelter und die Bevölkerung weltoffener – was sich in den Wahlergebnissen wiederspiegelt: Ex-Preussen wählt liberal, Ex-Russland konservativ.

Es ist gar nicht so einfach, die einstige Grenze zwischen Ełk und Suwałki zu überwinden. Die einstige Bahnlinie via Olecko ist eingestellt, soll aber in ein paar Jahren wieder in Betrieb gehen, wie ein Schild am Bahnhof verkündet. Bis dahin bleiben nur die spärlichen Busse, die zwischen den beiden Städten verkehren. Oder aber zwischen Wien und Tallinn: an diesem Märzvormittag war diese 1700 km lange Flixbus-Linie die beste Option, um 45 km durch die polnische Provinz zurückzulegen. Der Bus war am Vortag in Wien gestartet, die Passagiere schliefen noch, am Boden kullerten Puntigamer-Dosen („Das ‚bierige‘ Bier“) hin und her.

Suwałki, die polnische Grenzstadt zu Litauen und Belarus, ist gepflegt, angenehm, freundlich und sehr langweilig. Mit einem riesigen begrünten zentralen Platz, in dem an diesem Samstagvormittag die lokalen Pfadfinder Kriegsspiele veranstalteten, wirkt es eher wie eine Parklandschaft als wie eine Stadt. In der Stadt gibt es eine litauische Minderheit, darum auch ein zweisprachiges Gymnasium. Einige Läden sind zweisprachig polnisch-litauisch beschriftet, aber eher wegen der Einkaufstouristen. Polen ist zwar teuer geworden, aber immer noch billiger als Litauen.

Die heidnischen Jatwinger haben hier überlebt, und zwar als Anhänger der lokalen Fussballmannschaft Wigry Suwałki. Da mir nach der kurzen Stadtbesichtigung immer noch zwei Stunden bis zur Abfahrt des Zuges nach Litauen blieben, investierte ich in einen Matcha Latte im White Bear Coffee, einer polnischen Kaffeekette mit ausgesprochen kitschigem Look und dazu passenden knallbunten Getränken.

Für eine 70’000-Einwohner-Stadt ist der Bahnhof Suwałki ziemlich tot (trotz schöner russischer Bahnhofsarchitektur): Es verkehren täglich nur fünf Züge in die Regionalhauptstadt Białystok – und einer durch den Suwałki Gap nach Litauen. Es ist der Intercity „Hańcza“, der seine Fahrt an die polnisch-litauische Grenze morgens um 4 Uhr in Krakau beginnt und von der Grenze aus Anschluss in die litauischen Grossstädte Kaunas und Vilnius hat.

Geopolitisch ist der „Suwałki Gap“ deshalb so wichtig, weil er mit einer Breite von nur knapp 65 Kilometern die russische Exklave Kaliningrad vom russlandtreuen Belarus abtrennt. Im Falle eines Krieges zwischen Russland und europäischen NATO-Staaten, so wird befürchtet, könnte diese Region erstes Ziel einer Invasion werden. Bereits heute sorgt die Exklavenlage Kaliningrads für viel Streit. Russland hat gemäss einem Vertrag mit Litauen das Recht, Korridorzüge für Passagiere und Waren zwischen Belarus und Kaliningrad zu betreiben. Diese russischen Züge fahren auch heute noch mitten durch Vilnius und Kaunas. Seit der Eskalation der russischen Invasion in der Ukraine 2022 achtet Litauen genauer darauf, was Russland auf dieser Route transportiert, und hat solche Züge wiederholt gestoppt. Nur zu gern würde sich Russland nicht mehr von den aufmüpfigen Litauern dreinreden lassen.




Die Bahnfahrt durch die beschauliche Landschaft lässt eine solche Brisanz kaum vermuten. Sanft gewellte Hügel mit einzelnen Bauernhöfen wechseln sich ab mit ausgedehnten Wäldern, die Landschaft wirkt fast schon skandinavisch. Mehr als in anderen Gegenden Polens sieht man hier noch alte Holzhäuser. Auf den kleinen Feldern arbeiten Bauern mit kleinen Traktoren. Der Zug holpert eher langsam dahin, erst zum polnischen Grenzbahnhof Trakiszki und dann über die einstige Aussengrenze der Sowjetunion. Damals war es eine der bestbewachten Grenzen der Welt, und so sieht sie auch heute noch aus. Ein etwa ein Kilometer breiter Waldstreifen trennt die beiden Länder voneinander ab, die eigentliche Grenze bildet aber eine Schneise: der damalige Todesstreifen.

Heute muss man an dieser Grenze nicht mal eine Identitätskarte mehr vorzeigen, wenn es auch immer noch nur wenig Verkehr gibt: die meisten Waggons des Intercity Hańcza sind leer, nur etwa 40 oder 50 Personen machen an diesem Tag den Grenzübertritt mit dem Zug (weil die Flüge so billig sind). Sein Lauf endet am litauischen Grenzbahnhof Mockava, die Passagiere steigen hier in den litauischen Schnellzug nach Kaunas und Vilnius um. Denn Litauen fährt die Bahn immer noch auf der Breitspur, ein Erbe des paranoiden Sowjetregimes. Doch an der Kompatibilität wird gearbeitet: In ein paar Jahren soll eine Normalspur-Hochgeschwindigkeitsstrecke von Polen über Litauen und Lettland nach Estland in Betrieb gehen, die „Rail Baltica“. Das Projekt ist allerdings von Verspätungen geprägt. Immerhin ist es seit 2025 wieder möglich, in einem Tag mit dem Zug von Vilnius über Riga nach Tallinn zu reisen, mit zweimaligem Umsteigen allerdings (in Riga und Valka).

Meine Fahrt endet in Kaunas, das mich mit pulsierendem Grossstadtleben und einem hervorragenden georgischen Abendessen empfängt – sehr willkommen nach den beschaulichen Städtchen Sudauens!



