Grenzen | Borders

Bilder von der russischen Grenze: zwei Tage in Narva

Als Teenager überredete ich meine Eltern, in die estnische Grenzstadt Narva zu fahren. Ich wollte einmal in meinem Leben Russland sehen. Nirgendwo geht das besser als in Narva. Hier stehen sich zwei mittelalterliche Festungen Auge in Auge gegenüber: Auf der Hermannsfeste weht die estnische Flagge, auf Iwangorod die russische Trikolore. Ich überredete sogar meinen Chemielehrer tschechischer Abstammung, mir ein paar Sätze auf Russisch zu übersetzen. Ich wollte die russischen Grenzwächter fragen, ob ich nicht ausnahmsweise einen kleinen Spaziergang in Iwangorod machen dürfte. Allerdings gelang es mir nicht, auch sie zu überreden.

25 Jahre später bin ich zurück in Narva. Noch immer ist der Ausblick von der Hermannsfeste hinunter auf die Grenzbrücke und hinein nach Russland ziemlich einmalig. Doch mittlerweile habe ich Russland ausgiebig bereist. Ich kann mir gut vorstellen, wie es auf der anderen Seite aussieht. Aber Russland ist noch viel unerreichbarer als bei meinem ersten Besuch vor 25 Jahren, denn die geopolitischen Vorzeichen haben sich massiv geändert: Narva ist der Aussenposten der NATO während Russland versucht, ehemalige Sowjetrepubliken zurückzuerobern. Dies wird auch vor Ort mehr als offensichtlich: wo einst zahlreiche Fahrzeuge die Brücke überquerten, stehen heute Panzersperren. Und die einst zahlreichen Fussgänger gelangen nur noch tröpfchenweise auf die andere Seite.

Den Autoverkehr hat die russische Seite gestoppt: angebliche Bauarbeiten zu einer Rundum-Erneuerung der Grenzabfertigungs-Einrichtungen. Bei den Fussgängern hingegen harzt es auf der estnischen Seite. Offenbar kontrollieren die estnischen Zöllner momentan genau, ob jemand sanktionierte Güter nach Russland einführt. Das dauert lange. Am zweiten Tag meines Aufenthalts in Narva schneite es heftig und eine lange Schlange erstreckte sich auf den Peetri tänav, den Petersplatz von Narva.

Narva ist eine unansehnliche Stadt. Eigentlich ist es die drittgrösste Stadt Estlands, doch Touristen kommen nur hierher, um einen Blick auf die russische Grenze zu erhaschen. Dabei hatte Narva eigentlich einst eine prächtige Barock-Altstadt, fast so schön wie jene von Tallinn. Sowjetische Luftschläge zerstörten diese aber im 2. Weltkrieg. Auf einen Wiederaufbau wurde verzichtet. Stattdessen wurde Narva eine Industriestadt, die Altstadt zum Wohnquartier degradiert. Als einziges erhaltenes historisches Gebäude steht nun das Rathaus inmitten von gesichtslosen Mietkasernen. Ein Stadtzentrum gibt es nicht mehr, höchstens den Petersplatz am Grenzübergang, der von repräsentativen Gebäuden im stalinistischen Klassizismus gesäumt ist. Und einem furchtbaren Wasserturm.

Mit der Bebauung wechselte auch die Bevölkerung. Bis zum 2. Weltkrieg war die Bevölkerung ungefährt je zur Hälfte estnisch und russisch gewesen. Heute gibt es hier fast nur Russischsprachige. In der Öffentlichkeit dominiert die russische Sprache unangefochten, wenn auch praktisch alle Aufschriften estnisch oder zweisprachig sind. Was völlig absurd wirkt angesichts der tatsächlichen Sprachverhältnisse. Man kann der lokalen Bevölkerung nicht mal einen Vorwurf machen: Wie soll sie Estnisch lernen, wenn man es hier überhaupt nicht spricht? Immerhin lernt es die jüngere Generation in der Schule, und die meisten lernen es tatsächlich, denn mit Sprachkenntnissen hat man auch bessere Perspektiven. Die Sowjet-Generation hingegen hat abgehängt und kann sich nicht annähernd in der Landessprache verständigen.

Im Einkaufszentrum Fama gibt es extra eine „Ecke der estnischen Sprache“, die ich aber verwaist vorfand. Kein Wunder: Fast alle der Bücher, die zur Verfügung stehen, sind einfach nur estnisch-russische Wörterbücher.

Mit der russischen Sprache kommt auch ein anderes Weltbild. Auch wenn die meisten Narvarussen froh sind, in Estland zu leben und auch den estnischen Staat schätzen, unterstützen doch viele Putin. Ein grosser Teil der Bevölkerung hat Verwandte oder Freunde „drüben“ und überquert die Brücke regelmässig. Rund ein Drittel hat den russischen Pass, ein weiterer Drittel den grauen Pass. Das ist eine estnische (und lettische) Eigenheit für „Nichtbürger“, also vorwiegend zur Sowjetzeit angesiedelte Russen, die sich nicht für die Staatsangehörigkeit qualifizieren. Nichtbürger haben abgesehen vom Wahlrecht die gleichen Rechte wie Bürger. Für Narvarussen ist der graue Pass sogar ein Vorteil: damit können sie visafrei nach Russland einreisen, estnische Bürger hingegen brauchen ein Visum.

Was mich in Narva dennoch überraschte war, dass alle Ukraine-Flaggen verkehrt herum aufgehängt sind. Erst fiel mir dies an einzelnen Stellen wie z.B. am Flussufer direkt an der Grenze auf. Dann stellte ich fest, dass dies konsequent der Fall ist. Nun ja, die Narvarussen stehen Russland sicher näher als die meisten Esten und scheinen zudem keine besonderen Sympathien für die Ukraine zu haben. Aber das schien mir dann doch etwas krass subversiv. Etwas erleichtert bemerkte ich, dass ich tatsächlich falsch lag: die umgekehrte Ukraine-Flagge (also mit gelb oben) ist die Stadtflagge von Narva!

Als ich vor 25 Jahren in Narva war, wollte ich unbedingt eine 5-Rubel-Note wechseln. Sie fehlte mir noch in meiner Banknoten-Sammlung. Doch keine der Wechselstuben hatte eine. Schliesslich gab mir eine Frau eine 5-Rubel-Münze, an der ich auch Freude hatte. Erstaunlich: Trotz Bankkarten und Euro haben sich in der Umgebung des Grenzübergangs viele Wechselstuben erhalten. Sie tragen erheblich zu einem guten Grenz-Feeling bei. Und ich nutzte die Gelegenheit, eine Handvoll neu herausgegebener Rubel-Noten zu wechseln.

Der abendliche Blick über den Grenzübergang: Alles ist weiträumig abgesperrt, die wenigen Fussgänger wandeln geschützt unter einem Dach, die Strasse ist mit Panzersperren, Containern und Schlagbäumen versperrt. Die Aufschrift auf dem grünen Kontrollgebäude lautet Эстония – Россия (Estland-Russland). Irgendwie beruhigend, dass momentan Estland noch so explizit als Land angesehen wird. Auch Propaganda konnte ich keine erkennen, weder in Russland noch in Estland. Vor kurzem hing aber noch ein riesiges blutüberströmtes Antlitz Putins von der estnischen Hermannsfeste…

Südlich des Grenzübergangs gibt es auf der estnischen Seite einen modern gestalteten Park mit Freibad, auf der russischen Seite ist Sperrgebiet. Dennoch stehen auf beiden Seiten auch Fischer im Fluss, teils gefährlich nahe der Flussmitte. Noch etwas verkündet ein Schild, dass man am östlichsten Punkt Estlands angekommen sei. Gegenüber steht auf der russischen Seite ein Kraftwerk: zum Greifen nah, und doch so fern, seit sich Estland vor ein paar Monaten vom russischen Stromnetz getrennt hat.

Oberhalb des Kraftwerks ist der Narva-Fluss umgeleitet und verläuft ganz auf der russischen Seite. Im historischen Flusslauf, wo sich die Grenze befindet, gibt es nur noch ein Rinnsal. Ohne weiteres käme man hier einigermassen trockenen Fusses auf die andere Seite! Darum ist das Rinnsal russischerseits von Stacheldraht gesäumt. Estnischerseits beschränken sich die Massnahmen auf blauweisses Flatterband der Politsei.

Doch auch die Esten nehmen die Grenzlage ernst. An vielen Stellen machen gelbe Warnschilder darauf aufmerksam, dass man eine Grenzzone mit „besonderem Regime“ betritt. Erstaunlicherweise bedeutet das nicht, dass man sie nicht betreten oder dort nicht fotografieren darf. Aber im Fluss zu schwimmen ist nicht erwünscht, ebenso das Fliegen von Drohnen. Zudem eine Erinnerung, dass GPS-basierte Geräte den Grenzverlauf oft falsch anzeigen und man sich nicht darauf verlassen solle. Nun ja… ich hielt einen respektvollen Abstand.

Ein grosser Teil des Grenzgebiets zwischen Narva und Iwangorod wird von einer riesigen Industrieruine eingenommen: die Textilfabrik Kreenholm. Einst war sie bei weitem der grösste Arbeitsgeber der Region, heute erstrecken sich ihre Ruinen ungenutzt über zwei Länder. Industrieruinen auf der Grenze, gibt es was besseres? Leider ja, nämlich: zugängliche Industrieruinen auf der Grenze. Die Kreenholm-Fabrik ist weiträumig abgesperrt, überall sind Schilder einer professionellen Sicherheitsfirma und natürlich Videokameras. Ich habe es also nicht provoziert. An Sonntagen organisiert das Museum von Narva geführte Touren durch die Fabrik. Leider war ich nicht an einem Sonntag in Narva.

Am südlichen Stadtrand stösst man den Staudamm, der zum Kraftwerk gehört, und einen grossen Stausee. Hier gibt es besonders viele Grenzzonen-Schilder. Über den – natürlich mit Stacheldraht abgesperrten – Staudamm könnte man direkt hinüber nach Russland. Klassischerweise winkt eine orthodoxe Kirche mit Zwiebeltürmen.

Folgt man dem Narvafluss in die andere Richtung, bis an seine Mündung, erreicht man den Kurort Narva-Jõesuu. Hier, direkt an der Ostsee, gibt es keine Brücken mehr. Auf der russischen Seite des Grenzflusses sieht man nur Wälder. Sowie eine kleine Hütte der Grenzwächter, ihr Ausguckturm und ihr Motorboot. Doch so friedlich, wie die Szenerie wirkt, ist es hier nicht. Erst vor einigen Wochen ist ein Teil der Grenzbojen im Narvafluss verschwunden. Vermutet wird, dass sie die russischen Grenzwächter abtransportiert haben. Vielleicht mit dem Motorboot im Bild…

Dort, wo der Narvafluss auf die Ostsee trifft, steht dieser hervorragende Leuchtturm. Er ist eine der wenigen Sehenswürdigkeiten des Städtchens Narva-Jõesuu, das ausserhalb der Saison an diesem winterlichen Apriltag einen überaus desolaten Eindruck macht. Zu sehen gibt es sonst noch ein paar verlassene sowjetische Sanatorien (Põhjarannik, Meereranna), den verfallenen und zugemauerten Kuursaal und einen perfekten, menschenleeren Sandstrand. Bei 0° C und argen Böen hält es hier niemand aus. Ich verziehe mich auch schnell, nachdem mein Gesicht beinahe sandgestrahlt wurde.

Eine bemerkenswerte Sehenswürdigkeit der Region ist die Industriestadt Sillamäe mit ihrem perfekten städtebaulichen Ensemble im Stil des stalinistischen Klassizismus. Eine wahre Modellstadt war das. Eine geheime überdies: in Landkarten war sie nicht eingezeichnet, genannt wurde sie nur unter Codenamen wie „Leningrad 1“ oder „Moskau 400“. Unbefugte durften Sillamäe nicht betreten, denn hier gab es eine Urananreicherungsanlage für sowjetische Nuklearwaffen und weitere sensible Objekte. Auch heute ist Sillamäe noch industriell geprägt und hat eine fast ausschliesslich russische Bevölkerung, doch geheim ist hier nichts mehr.

Zum Abschluss ein Abendspaziergang durch Narva und an Iwangorod vorbei. Fast schon sinnbildlich, wie die renovierte Hermannsfeste und die Uferpromenade Narvas festlich erstrahlen, währenddem Iwangorod im Düstern liegt – anstelle einer Uferpromenade nur das mit Stacheldraht abgesperrte Steilufer.

1 Kommentar

Hinterlasse einen Kommentar