
Visaginas ist die einzige russischsprachige Stadt Litauens. Ein Überbleibsel der Sowjetunion: Sie wurde 1975 gebaut, um die Arbeiter im nahegelegenen Atomkraftwerk Ignalina unterzubringen – hatte also genau denselben Zweck wie das wesentlich berühmtere Prypjat beim explodierten Kraftwerk Tschernobyl.
Dieses Atomkraftwerk wollte ich mir natürlich ansehen, doch das ist gar nicht so einfach. Führungen gibt es zwar, doch sie sind Monate im Voraus ausgebucht. Das Besucherzentrum, so erklärte man mir auf telefonische Nachfrage, sei derzeit im Umbau. Ein Reisebüro aus Visaginas bietet Fatbike-Touren in der Umgebung des Atomkraftwerks an, reagierte aber nicht auf meine Anfrage. Kurz überlegte ich mir, Visaginas aus meinem Reiseprogramm zu streichen – hoffte dann aber darauf, vor Ort irgendwo ein Velo mieten zu können.

Ich buchte also das B&B Idilė (Idyll) und erfuhr bei der Ankunft gleich, dass die Velomiete gar kein Problem sei. Auch kein Problem war die Kommunikation auf Russisch. Ich frage gleich, ob dies hier denn üblich sei. Ja, bestätigte der Mitarbeiter, die Leute seien damals aus der ganzen Sowjetunion hierher gekommen, er selbst beispielsweise stamme aus Nordossetien. Russisch sei Umgangssprache geblieben und ich könne hier ohne weiteres mit jedem Russisch sprechen (was in den baltischen Staaten sonst ja verpönt ist). Nur etwa 15 % der Bevölkerung von Visaginas sind Litauer. Dennoch ist alles in der Amtssprache Litauisch angeschrieben, russische Aufschriften sind eher selten.

Dann machte er mir das Velo parat. Ich sei der erste Velofahrer dieses Jahr, erklärte mir der Ossete, und bot mir gleich sicherheitshalber eine gelbe Leuchtweste an. So sehr wollte ich auf dem Gelände des Atomkraftwerks dann doch lieber nicht auffallen (obwohl, vielleicht wäre es die perfekte Tarnung gewesen?).

Nach einer Halbstunde Velofahrt auf einer holprigen und leeren, aber vierspurigen Strasse erreichte ich als erstes ein brutalistisches Betonmonument mit der offiziellen Bezeichnung des Kraftwerks: IGNALINOS ATOMINĖ ELEKTRINĖ. Im B&B hatte man mir geraten, eine Identitätskarte mitzunehmen wegen der Kontrollen in der Umgebung des Atomkraftwerks. Von einem Checkpoint, ähnlich wie in Tschernobyl, gab es bis dahin aber keine Spur.

Und dabei blieb es. Ohne jede Kontrolle gelangte ich auf den Parkplatz vor dem Reaktorblock 1. Die Szenerie war etwas surreal: Einzelne Arbeiterinnen und Arbeiter gingen zwischen dem Kraftwerk und einem Seitengebäude hin und her. Im Hintergrund die Kamine der beiden Reaktorblöcke, unverkennbar im gleichen Stil wie aus Tschernobyl bekannt. Links vor dem Eingang war ein Bus abgestellt mit der deutschen Aufschrift «Leerfahrt». Und absolute Stille im riesigen Areal. Ganz allein drehe ich mit dem Velo eine Runde um den Kreisverkehr, niemand beachtete mich.

Das Atomkraftwerk Ignalina ist das einzige Kraftwerk vom Typ Tschernobyl in der heutigen EU, beziehungsweise: war es. Denn eine der EU-Aufnahmebedingungen für Litauen war die Abschaltung der beiden riskanten Reaktoren. Aus gutem Grund: bei der Inbetriebnahme in den frühen 1980er Jahren wurde ordentlich gepfuscht. Ignalina sollte das grösste Kraftwerk der Welt werden, und das möglichst schnell. Die Zeitpläne der kommunistischen Regierung hatten Priorität, nicht die Sicherheit. So kam es, dass das Dach über dem Reaktor geschlossen wurde, bevor Kräne die gesamte Ausrüstung hineingehoben hatte – der Eröffnungstermin war wichtiger. Das versuchte man später zwar noch auszubessern, was aber nur ansatzweise gelang. Viele Innenräume hatten zudem keine Beleuchtung, so dass die Ingenieure mit Taschenlampen arbeiten mussten. Dies und weitere Mängel führten beim Hochfahren des ersten Reaktorblocks 1985 beinahe zum selben Unglück, das später Tschernobyl ereilte.

Die Probleme nahmen kein Ende, für haarsträubende Details kann ich den Wikipedia-Artikel dazu empfehlen. Doch nach der Unabhängigkeit Litauens 1991 hing das junge Land am Tropf des Kraftwerks, das praktisch den ganzen Stromverbrauch deckte und zudem Energie ins Ausland exportierte. Darum spielte das AKW Ignalina bei den EU-Beitrittsverhandlungen eine erhebliche Rolle: Die EU wollte zwar Litauen aufnehmen, aber keine Risiko-Reaktoren. Litauen verpflichtete sich also, Ignalina I und II abzuschalten – die EU dafür, dies zu finanzieren. Block I wurde 2004 für immer heruntergefahren, 2009 folgte Block II. Doch die Rückbau-Arbeiten dauern an. Erst 2038 sollen sie beendet sein. Bis dahin bleibt das Atomkraftwerk der wichtigste Arbeitgeber in Visaginas. So kommt es zur absurden Situation, dass die EU eine überwiegend russische Belegschaft dafür bezahlt, sowjetische Atomreaktoren zu liquidieren.

Für mich besonders spannend war, dass das Atomkraftwerk in einer besonderen Grenzlage gebaut wurde: die belarussische Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt, ebenso das Dreiländereck, an dem zudem noch Lettland beteiligt ist. So weit radeln wollte ich nicht, aber immerhin einen Blick auf Belarus erhaschen. Östlich des Atomkraftwerks und in unmittelbarer Grenznähe befindet sich ein Aussichtspunkt namens Šaškai, von dem aus man ursprünglich das Kraftwerksgelände inspiziert hatte. Der Weg dahin führt über kleine Waldpfade, Seitenwege führen noch näher an die Grenze. An diesen warnen aber mehrere Schilder vor dem Betreten der Grenzzone. Bei einem neuen, glänzenden und respekteinflössenden Schild machte ich schliesslich kehrt (und getraute mich nicht mal, es zu fotografieren…).



Die Stadt Visaginas besteht ausschliesslich aus Plattenbauten: eine sowjetische Retortenstadt, erbaut in den 1980er Jahren. Gleich wie das ukrainische Prypjat sollte es eine Modellstadt werden, auf die alle neidisch sind. Ganz fertig ist sie nicht geworden. Geplant war ein Grundriss in Form eines Schmetterlings, doch da kam der Zusammenbruch der Sowjetunion dazwischen und es wurde nur ein Flügel. Weil das Kraftwerk Ignalina im Gegensatz zu Tschernobyl nicht explodiert ist, kann man auch noch heute bestaunen, was daraus geworden ist. Denn trotz dieser Vorzeichen ist Visaginas wirklich eine überaus angenehme Stadt: sauber, zweckmässig, mit viel Platz für Fussgänger und an einer traumhaften Lage in einem Pinienwald an einem kleinen See.


Die kulinarische Lage ist nicht vergleichbar mit den Grossstädten, doch wenigstens nehmen die Lokale die Eigenheiten der Stadt aufs Korn. Sie heissen beispielsweise 3. Block (ursprünglich waren vier Reaktorblöcke geplant, der 3. und 4. Block wurden nie gebaut) oder Bunker. Letzterer ist das hippste Lokal und trotz toller Lage am zentralen Boulevard tatsächlich ein Bunker. Das Innere ist düster, es gibt keine Fenster, dafür Burger und Švyturis-Bier.

Abends wird es am kleinen Strand richtig belebt mit Romantikern und Fotografen, denn die Sonnenuntergänge von Visaginas sind offenbar legendär – und ausserordentlich kitschig.

PRAKTISCHE INFORMATIONEN
Anreise: Von und nach Vilnius fahren sechs Züge pro Tag (8.60 €). Vom kleinen Busbahnhof aus fahren Busse in die umliegenden Städte sowie ins lettische Daugavpils. Nach Daugavpils gelangt man auch mit dem Zug an den Grenzbahnhof Turmantas (0.90 €), dann 2 km zu Fuss über die Grenze und weiter mit dem Bus ab Zemgale nach Daugavpils (1.60 €).
Fortbewegung: Visaginas ist sehr grossräumig angelegt, der Bahnhof nicht gerade zentral. Es gibt eine einzige Buslinie (kostenlos), die im Uhrzeigersinn rund um die Stadt fährt sowie Abstecher an den Bahnhof macht, wenn immer Züge ankommen/abfahren. Auch zum Atomkraftwerk verkehren Busse, aber nur für die Mitarbeiter. Am besten gelangt man dahin, indem man ein Velo mietet. Velomiete gibt es in beiden Unterkünften, bei Kornealita aber nur in den Sommermonaten (darum schlief ich im Idilė).
Unterkunft: Es gibt ein Hotel (Kornealita) und ein B&B (Idilė). Es lohnt sich, sie nicht online zu buchen, sondern eine E-Mail zu schreiben, die Zimmer sind so ein wenig billiger. Beide sind nicht sehr zentral gelegen, aber mit Nähe zu Bushaltestellen.
Essen: Neben dem Bunker und dem 3. Block (III. Blokas) gibt es zahlreiche weitere Cafés, die etwas weniger einladend aussehen, zudem das Café Sava am See. Zahlreiche Supermärkte haben von 8 bis 22 Uhr geöffnet.
