
Grenzstädte gibt es an der Chaco-Grenze nicht, sie befindet mitten im Nirgendwo. Über 100 Kilometer sind es in beide Richtungen bis zu den nächsten städtischen Siedlungen. Sogar 250 Kilometer von der Grenze entfernt ist Mariscal Estigarribia in Paraguay, ein Städtchen mit militärischem Namen und Charakter: ein grosser Teil des Ortsgebiets wird von einer Armeebasis eingenommen. In der Nähe befinden sich bis Kolonien mennonitischer Siedler mit Namen wie Neu-Halbstadt oder Schönwiese, in denen bis heute teilweise Deutsch gesprochen wird.

Eine sehr reizvolle Grenzlandschaft also, auf die ich mich freute. Zu früh, wie sich herausstellte. Bei der Reisevorbereitung hatte ich festgestellt, dass Reisen in Südamerika noch so ist, wie es bei uns vor 20 Jahren war: Informationen (und Tickets) findet man nicht online, sondern an den Schaltern der Busunternehmen. Also pilgerte ich nach meiner Ankunft in Asunción als erstes zum riesigen Busterminal. Was ich herausfand, war ernüchternd: sämtliche Busse über die Grenze nach Bolivien durchquerten den Chaco über Nacht, mit Grenzkontrollen kurz vor dem Morgengrauen. Eine Busgesellschaft bot an, mich ungefähr um 2 Uhr nachts an einer Tankstelle abzuholen – so gross war meine Opferbereitschaft für eine coole Grenzstadt dann doch nicht.

Also entschied ich mich also für eine der längsten Busfahrten meines Lebens und besorgte mir gleich das Ticket zu den bestmöglichen Konditionen: Im Liegebus, oberer Stock ganz vorne, der Panoramaplatz für bestmögliche Ausblicke auf den nächtlichen Chaco. 20 Stunden Fahrt standen mir bevor, von Asunción in die grösste Stadt Boliviens, Santa Cruz de la Sierra (das überhaupt nicht in der Sierra liegt sondern im amazonischen Flachland).

Am Abfahrtstag war ich ein wenig nervös, deckte mich mit ausreichend Snacks ein und freute mich auf meinen Panoramasitz – um ihn bereits belegt vorzufinden! Ein Blick aufs Billett zeigte, dass mein Platz Nr. 17 weiter hinten im Bus war. Anders als angekündigt war der Bus zudem alles andere als ausgebucht, nur sieben weitere Passagiere fanden sich ein. Darum hatte ich meinen Logenplatz verloren: mehrere Busgesellschaft hatten ihre Fahrten zusammengelegt. Dadurch änderte sich die Sitznummerierung. Ich war furchtbar enttäuscht.

Also suchte ich das Gespräch mit den neuen Besitzern der Plätze, jungen Männern aus Santa Cruz. Bereitwillig traten sie mir einen der Panoramaplätze ab. Meine Welt war wieder in Ordnung. Noch mehr in Ordnung war sie, als wir uns durch den abendlichen Stau von Asunción kämpften und die obligaten Grenzgespräche ins Laufen kamen, 750 Kilometer von der Grenze entfernt. Thema Nr. 1: der Wechselkurs. Keine Ahnung hatte ich gehabt, dass es in Bolivien eine Dollarknappheit gibt und damit einen Schwarzmarkt-Wechselkurs, der deutlich über dem offiziellen liegt (16.3 vs 6.9). Auch die junge Paraguayerin, die zu meiner anderen Seite sass, war darauf nicht vorbereitet, und so begleitete uns das Thema über die nächsten 20 Stunden. Zweites zentrales Thema war der Vergleich der Länder. «Mach dich auf einen Kulturschock gefasst», warnte mich einer der Bolivianer, «das ist ein echtes Drittweltland?» Auf meinen vorsichtigen Einwand «und Paraguay?» lachte er nur. Absolut nicht vergleichbar sei das.

Als der Stau endlich hinter uns lag, der Río Paraguay unter uns (wir fuhren über eine hohe Brücke), lag die Trans-Chaco schon vor uns: Eine Überlandstrasse von Asunción bis an die bolivianische Grenze. Im Mondschein genoss ich die Panoramafahrt durch den leeren Landesteil, der die Hälfte Paraguays ausmacht, aber nur 3 % der Bevölkerung beherbergt. Eine perfekte Schnellstrasse führt durch die «grüne Hölle», um die Bolivien und Paraguay einst einen der blutigsten Kriege Südamerikas ausfochten. Die «Nähe» Boliviens wurde denn auch sofort spürbar, denn von meinem Panoramasitz aus sah ich in erster Linie Tanklastwagen, die Benzin nach Bolivien bringen und die mühsam überholt werden mussten. Nicht nur Dollars seien knapp in Bolivien, erklärten die bolivianischen Mitreisenden, auch Benzin. Viele Strassen im Hochland seien darum von wütenden Bürgern blockiert.

Ganz offensichtlich hätte auch die Natur einiges zu bieten im Chaco. Zu Beginn (im feuchten Chaco) wird die Strasse von Palmenwäldern gesäumt, und Warnschilder machen auf die reiche Fauna der Region aufmerksam. Noch nie zuvor hatte ich Tapir-Warnschilder gesehen! Doch bei 100 km/h im Dunkeln gelang es mir leider nicht, sie zu fotografieren. Auch andere rare Tiere konnte ich zumindest auf diesen Schildern bewundern, ergänzt mit weiteren nützlichen Hinweisen wie EVITE ACCIDENTES («vermeide Unfälle»).

Irgendwann nickte ich ein. Als wir in Mariscal Estigarribia eintrafen, war es 02:40 Uhr und ich war froh, schon einige Stunden Schlaf intus zu haben anstatt so lange an der kalten, dunkeln Tankstelle ausharren zu müssen. Ein Polizist weckte uns alle, kontrollierte die Ausweise, dann ging es weiter: ein paar Bungalows, zwei oder drei Tankstellen, das riesige Portal des Armeegeländes und die Einöde des Chaco.
Der nächste Polizist weckte uns kurz vor dem Morgengrauen. Ein Blick auf die Landkarte verriet, dass wir uns in Mayor Infante Rivarola befanden. Noch ein militärischer Name also. 300 Meter fehlten noch zur Grenze. Die Kontrolle beschränkte sich auf einen flüchtigen Blick auf die Ausweise, schon rollten wir weiter. «Bienvenido a Bolivia» verkündete ein Tor exakt auf der Grenze – und ich hatte noch keinen Ausreisestempel von Paraguay!

Natürlich bestand kein Anlass zur Sorge. Direkt hinter der Grenze haben die beiden Länder eine sterile weisse Halle hingestellt, in der die Zoll- und Grenzkontrollen stattfinden. Zum ersten Mal seit der Abfahrt in Asunción hatte ich sogar Wifi, denn das bolivianische Zollformular muss zwingend online ausgefüllt werden. Man erhält dann einen QR-Code, den man den Zöllnern zeigen muss. Ansonsten gab’s wenig Spektakel, unser kleines Grüppchen war schnell abgefertigt.

Auf den ersten 100 Kilometern sah Bolivien exakt gleich aus wie Paraguay: Endloser Chaco. Nur die Strasse war viel schlechter. Als der Chaco in Villamontes dann doch endete, änderte die Landschaft: Nun fuhren wir stundenlang entlang der östlichsten Andenkette durch Wald, Wiese und ereignislose Ortschaften.

Ich war nie zuvor in Bolivien gewesen. Die ersten Schritte in einem neuen Land sind für mich immer etwas Besonderes. In Bolivien tat ich sie an einem schäbigen Rastort bei Ipaty, und zwar auf ein noch schäbigeres WC. Dann bummelte ich den Ständen entlang, die scharfe Suppen und Hühnergerichte anboten, die zwar ansprechend rochen, aber weniger ansprechend aussahen. Und, eindeutig Bolivien: Coca-Blätter in allen möglichen Geschmacksrichtungen.

Am Abend kamen wir in Santa Cruz de la Sierra an. Auf den ersten Blick gefiel mir die Stadt ausgezeichnet, mit ihrem belebten zentralen Platz, gesäumt von Kolonialbauten, der grossen asiatischen Community, die sich vor allem kulinarisch vorteilhaft bemerkbar macht, den belebten Strassen… Doch eigentlich gibt es hier nicht viel zu sehen und zu tun, und als es ab dem zweiten Tag zu regnen begann, sehnte ich mich recht bald nach der Weiterreise.

