
Eine meiner Inspirationen für diese Südamerika-Reise war das Buch „Der alte Patagonien-Express“ von Paul Theroux. Dieser fuhr in den 1980er Jahren mit der Eisenbahn von Boston nach Patagonien und lamentiert dabei über den miserablen Zustand der lateinamerikanischen Bahnen, die überall vom Strassenverkehr verdrängt werden. 40 Jahre später sind vom Bahnverkehr in Südamerika nur noch rudimentäre Reste vorhanden. Doch in Bolivien hat sich eine Bahnlinie quer durch die Anden erhalten, die ein einmaliges Erlebnis bietet.

Zwischen Oruro im Altiplano (bolivianische Hochebene) und dem zwielichtigen Villazón an der argentinischen Grenze verkehren weiterhin Züge. Wobei auch hier das Angebot auf ein absolutes Minimum zusammengeschrumpft ist: Einmal in der Woche fährt ein „Ferrobus“, bestehend aus nur einem Wagen; zudem zweimal pro Woche ein noch kleineres Gefährt zwischen Atocha und Tupiza. Wer etwas von der Strecke sehen will, muss dienstags von Nord nach Süd reisen: erst ab Uyuni bzw. Atocha (je nach Jahreszeit) wird es hell, dann immerhin durchgehend bis Villazón. In die Gegenrichtung wird donnerstags nur Villazón-Tupiza bei Tageslicht zurückgelegt, der Rest der Reise in der Nacht (siehe Fahrpläne der Ferroviaria Andina).

Für das Bahnerlebnis musste ich also extra nach Atocha reisen – ein 2000-Seelen-Kaff auf 3700 Metern, denkbar abgelegen und desolat: Atocha entstand wegen der Minenindustrie, die aber eingegangen ist. Die Ortschaft sieht aus wie eine Favela, umgeben ist sie von Industrieruinen und wüstenhaften Bergen. Ein Ort ganz nach meinem Geschmack also. Um für die frühe Zugsabfahrt parat zu sein, reiste ich am Vortag an und freute mich sehr über die Entdeckungen. Highlight war die Geisterstadt Atocha Vieja, 3 Kilometer nördlich der heutigen Siedlung gelegen, das einst die spanischen Kolonialherren gegründet hatten. Ein in der Dorfbeiz aufgegabelter Fahrer brachte mich im Jeep über eine abenteuerliche Kiesstrasse dorthin. Mein anschliessendes Abendessen in jener Dorfbeiz hingegen war eher ein Tiefpunkt.

Nach einer Nacht im ungeheizten Hotelzimmer wartete ich bei -6° bibbernd und ziemlich skeptisch am Bahnhof von Atocha. Skeptisch, weil verschiedene Einheimische erwähnt hatten, der Zug fahre gar nicht. Was auch tatsächlich der Fall war – bis heute! Denn am Bahnhof von Villazón hatte man mir bestätigt, dass der Betrieb am 23. Juni 2025 wieder aufgenommen würde. Doch im morgendlichen Atocha sah es gar nicht danach aus: ausser der Toilettendame war kein Mensch am Bahnhof. Und die Gleise machten kaum einen befahrbaren Eindruck. Erleichtert und auch ziemlich begeistert sah ich kurz nach acht Uhr den Ferrobus anrumpeln. In Oruro war er am Vorabend abgefahren und hatte nur wenige Minuten Verspätung.

Der kleine Zug ist ausgesprochen komfortabel, mit verstellbaren Sitzen (alle in Fahrtrichtung) und einem sogar sauberen WC. Aus touristischer Hinsicht ein grosser Vorteil ist, dass man die Fenster öffnen kann. Was sich im morgendlichen Frost nicht empfahl, wenn man es sich nicht mit den restlichen Passagieren verscherzen wollte. Deren gab es übrigens nur vier – unterwegs stieg dann noch eine Frau zu. Trotz der geringen Kapazität reichte der „Ferrobus“ also vollends, zumindest ausserhalb der touristischen Saison. In Reiseführern wird immer noch darauf hingewiesen, dass man sich die Tickets rechtzeitig besorgen sollte…


Der erste Streckenabschnitt nach Atocha führt auf über 4000 Metern über eine Hochebene mit zugefrorenen Flüssen. Hier leben keine Menschen, nur Lamas. Und sie sieht man nur von hinten, denn sie rennen alle vom Zug davon (daran könnten sich in tieferen Lagen die Ziegen, Schafe und Hunde ein Beispiel nehmen). Doch einige Kilometer hinter Atocha säumt plötzlich eine etwa einen Kilometer lange Schlange von Jeeps die Bahnlinie. Bald wird klar, wo sie anstehen: Hier gibt es eine Tankstelle (warum auch immer?!?). Benzin ist derzeit rar in Bolivien und wie es aussieht, warten Autofahrer stundenlang auf Tankmöglichkeiten.

Die Bahnlinie verläuft durch eine Gegend, die durch Strassen nicht erschlossen ist. In die Dörfer entlang der Strecke kommt man also nur mit dem Zug. Wie sich zeigte, handelt es sich dabei aber fast ausschliesslich um Geistersiedlungen – ausser im untersten Abschnitt vor Tupiza. Man muss wohl beim Zugpersonal vorstellig werden, wenn man an einem solchen Ort auszusteigen beabsichtigt. Angehalten wurde nämlich an keinem, obwohl die Bahnhöfe im Fahrplan verzeichnet sind. Aber wozu auch.

Plötzlich ging die Hochebene in eine schroffe Schlucht über. Über einen exponierten, in die Bergwand gehauenen Schienenpfad holperte der Ferrobus über dem Abgrund und schraubte sich immer weiter in die „Tiefe“ (die hier immer noch weit über 3000 Meter über Meer liegt). Es gibt auch einige finstere Tunnels, der Ferrobus scheint keine Innenbeleuchtung zu kennen.





In Tupiza, der grössten Ortschaft entlang meiner Strecke, trafen wir genau pünktlich ein. Der Fahrplan sieht hier einen Aufenthalt von 100 Minuten vor, schön auf die Mittagszeit gelegt. Ich nutzte die Zeit, um in mein Hotel einzuchecken (da ich die Nacht in Tupiza verbringen würde), mir Proviant für die nächsten Tage einzukaufen (ich plane eine Reise in noch einsamere Regionen im Südwesten), das Stadtpanorama von einem Aussichtspunkt aus zu geniessen und mich mit Empanadas einzudecken, um sie gemütlich am Bahnhof zu verspeisen. Am Schluss blieb sogar noch Zeit für einen Spaziergang über den Eisenbahnfriedhof, der sich an den Bahnhof anschliesst.


Die Fahrt von Atocha nach Tupiza betrug rund drei Stunden, und ebenso lange dauerte die nachmittägliche Fahrt von Tupiza in die Grenzstadt Villazón. Ganz gleich spektakulär wie der erste Teil war sie nicht, aber doch auch nicht schlecht. Nach einer Fahrt durch Vororte von Tupiza und ein landwirtschaftlich geprägtes Gebiet (Tupiza liegt ja nur auf 2900 Metern) trafen wir auf eine Klus namens El Angosto, in welcher der Zug gern einen Fotohalt hätte einlegen können. Bei einem Tempo von 25 bis 30 km/h war es allerdings ohnehin nicht allzu schwer, gelegentlich gute Fotos zu schiessen.


Danach ging es wieder bergan, ganz langsam: Der Endbahnhof Villazón liegt auf einer Hochebene auf 3400 Metern. Auf dieser Seite von Tupiza sind die Ortschaften besiedelt, aber die Bahnhöfe genauso verwaist wie in den Geisterstädten. Der Ferrobus hielt lediglich gelegentlich, weil sich Kühe, Ziegen oder Schafe weigerten, den Gleisbereich zu verlassen. Besonders ein kleines, weisses Lamm hielt den Bahnverkehr länger auf. Ansonsten verlief der letzte Abschnitt rasant: Sobald wir die Hochebene erreicht hatten, beschleunigte der zuvor sehr gemächlich verkehrende Ferrobus auf raserische 53 km/h.



Eine Pendenz blieb mir nach der Ankunft noch: Ich musste mir ein Ticket besorgen. Aufgrund der Warnungen in Reiseführern, der Zug könnte ausverkauft sein, wollte ich das bereits im Vorfeld. Doch über die Webseite der Ferroviaria Andina geht das nur per QR-Code mit bolivianischem Bankkonto (offenbar soll es aber über die Webseite ticketsbolivia.com möglich sein, habe ich mittlerweile erfahren). Auch bei meinem ersten Besuch am Bahnhof Villazón wollte man mir keines verkaufen, der Billettschalter war geschlossen. Ich solle mir keine Sorgen machen, hiess es, der Zug sei nie voll und ich könne das Ticket beim Kondukteur kaufen. Beim Einsteigen in Atocha machte aber auch der Kondukteur keinerlei Anstalten, mir eins zu verkaufen. Auf Nachfrage erklärte er, ich könnte dies nach der Ankunft in Villazón erledigen. Also suchte ich diesen letztlich auf und fand ihn offen vor. Der Angstellte war etwas überrascht über mein Anliegen, kassierte dann aber bereitwillig den Fahrpreis von 51 Bolivianos (ca. 3 Fr./€). Das Ausstellen des Billetts nahm dann deutlich mehr Zeit in Anspruch, da er in vier verschiedenen Schränken nach dem Billettblock suchen musste…

Offenbar kommt es also eher selten vor, dass Passagiere die Fahrt überhaupt bezahlen. Angesichts der Fahrpreise (7 Fr./€ für die Maximaldistanz Oruro-Villazón) und des Passagieraufkommens (5-6 Personen) kann der Betrieb aber ohnehin nicht annähernd rentabel sein. In Bolivien wurden in den letzten Jahren nach und nach die meisten Bahnstrecken geschlossen. Auch auf der Strecke Oruro-Villazón wurde er massiv ausgedünnt; 2019 war noch ein richtiger Zug mit mehreren Wagen zweimal pro Woche verkehrt. Somit dürfte auch dem Ferrobus keine allzu grossartige Zukunft mehr beschieden sein – Zeit, diese einmalige Bahnfahrt noch zu erleben!
