Grenzen | Borders

Villazón/La Quiaca, die dubiose Grenzhauptstadt Südamerikas

La Quiaca / Villazón ist der Inbegriff aller südamerikanischen Grenzstädte. Es liegt am Gringo Trail, fast jeder Rucksacktourist (sorry: Traveller) überquert dort die bolivianisch-argentinische Grenze, und die Reiseführer sind einhellig der Meinung, dass man hier so wenig Zeit wie möglich verbringen soll. Eine graue, staubige, unsichere Grenzstadt ohne jeden Reiz sei es, überdies auf einer Höhe von 3500 Metern, wo schnell die Höhenkrankheit einsetzt. Schon bei meiner ersten Südamerikareise fand ich diese Beschreibung ungemein anziehend. Dieses Jahr reiste ich nun endlich dorthin.

In Humahuaca in der argentinischen Provinz Jujuy brach ich am frühen Morgen auf und machte auf halber Strecke erst mal Pause, einzig und allein wegen des vielversprechenden Ortsnamens: Abra Pampa. Ich wurde nicht enttäuscht, das Dorf liegt auf einer abgeschiedenen, windigen Hochebene, am Ortsrand rosten Autowracks, verlassene Häuser zerfallen leise. Doch das Dorf lebte auch, gerade wurde ein Fussballspiel der lokalen Frauenmannschaft angepfiffen, auf einer Plakatwand warb Radio Huancar Rock mit dem Slogan „rompiendo el silencio de la Puna“ – zerreisst die Stille der Puna; so heisst die Hochebene.

In La Quiaca angekommen, musste ich natürlich als erstes die Grenze inspizieren. Die Reiseführer hatten nicht zuviel versprochen. Die Ortschaft sah aus wie eine grosse Favela, durchquert von einem dürftigen Rinnsal. Dieses Rinnsal ist die Staatsgrenze. Es hält eindeutig niemanden davon ab, die Grenze ohne Kontrolle zu überqueren. An verschiedenen Stellen zogen Leute mit Handwagen oder grossen Taschen ins Nachbarland, quasi vor den Augen der Grenzwächter. Es schien niemanden zu kümmern.

La Quiaca ist die nördlichste Stadt Argentiniens. Hier beginnt bzw. endet die Ruta Nacional 9, ein Teil der Panamericana. Die Distanzangabe in die südlichste Stadt Argentiniens, Ushaia, scheint aber etwas übertrieben. Auf direktem Weg sind es eher ca. 4350 Kilometer. Wenn man die gleiche Distanz in nördlicher Richtung zurücklegt, gelangt man bis nach Kolumbien (wenn man denn so weit kommt, da man noch durch ein paar gefährlichere Orte reisen muss als Villazón).

Meine Hauptinspiration für diese Reise war ja Paul Theroux‘ legendärer „alte Patagonien-Express“. Darin reist der Autor mit dem Zug von Bolivien aus über Villazón und La Quiaca nach Argentinien, was schon vor 40 Jahren mit erheblichen Strapazen verbunden war. Dieses Glück war mir nicht mehr vergönnt. Auf der argentinischen Seite sind Bahnlinie und Bahnhof seit vielen Jahren stillgelegt, nur das Bahnhofsschild dient nur noch als Touristenattraktion. In Bolivien besteht noch ein Minimalbetrieb: Einmal pro Woche fährt ein Zug, der nur aus einem Wagen besteht, nach Oruro (mein Bericht dazu).

Ich hatte keinen grossen Hunger, aber wollte mich dennoch in Argentinien verpflegen. Die bolivianische Küche hatte mich auf der bisherigen Reise zwar nicht schockiert, aber auch nicht gerade begeistert. Ich fand also ein sehr passendes Lokal, die Resto Bar Ruta 40, das wie ein Western-Saloon ausschaute. Ich war der einzige Gast und die Bedienung legte mir sehr ans Herz, ein Steak zu bestellen, da ich doch gut genährt nach Bolivien reisen sollte. Das Lokal sah nicht so aus, als würde es überhaupt andere Gerichte servieren, also ass ich ein Steak und machte mich dann wieder auf den Weg.

Der eigentliche Grenzübergang kündigte sich mit einem nostalgischen Grenzschild an und machte keinen viel kontrollierteren Eindruck als die informellen Flussquerungen. Auch hier ignorierten die meisten Passanten die Präsenz des Grenzpersonals und gingen unkontrolliert ins Nachbarland. Im späteren Verlauf der Reise begegnete ich einer Australierin, die es den Einheimischen gleichtat. Ihr ging erst mitten in Bolivien auf, dass sie als Touristin wohl doch besser legal eingereist wäre, worauf sie zurück nach Villazón reiste und dies noch nachholte. Eine Französin, der ich noch später begegnete, machte denselben Fehler, war aber noch weniger reflektiert – sie musste letztendlich Polizisten bestechen. Ich hingegen war natürlich scharf auf den Stempel, womit keinerlei Anreiz bestand, die Grenzkontrolle auszulassen.

In dieser Hinsicht hielt diese sonst so tolle Grenzstadt eine herbe Enttäuschung (nicht die einzige) für mich parat. Dass die Argentinier die Pässe nicht mehr stempeln, OK, das hatte man mir schon bei der Einreise schonend beigebracht. Dass es ihnen aber die Bolivierinnen gleichtaten – damit hatte ich echt nicht gerechnet. Denn an ALLEN anderen bolivianischen Grenzübergängen wurden die Pässe abgestempelt, nur hier nicht, am wichtigsten Grenzübergang des Landes, ja des Kontinents. Die Begründung: der Stempel sei nicht offiziell anerkannt, deshalb dürften sie nur Beizettel abstempeln. Wenn ich auf einen Einreisestempel bestehe, könne ich diesen in der Migrationsabteilung der Stadt Uyuni abholen, diese sei dafür zuständig. (Das probierte ich ein paar Tage später dann tatsächlich, da ich zufällig zu Öffnungszeiten dieser Behörde in der Stadt war. Wie sich herausstellte, waren die Villazoner Grenzwächter schlecht informiert: diesen Stempel gibt’s nur, wenn man gänzlich unkontrolliert über die Berge von Chile her einreist. Ich hätte ja den Beizettel mit den Einreisedaten, da sei alles tiptop in Ordnung, beschied man mir.)

Auf beiden Seiten der Grenzstrasse auf bolivianischer Seite stehen dubiose Geldwechsler Spalier, die mit vertrauenserweckenden Slogans wie „we changed money“ werben. Nachdem mich die skandalös schlechten Wechselkurse abgeschreckt hatten (nur 15 Bolivianos für einen US-Dollar? Die Woche davor in Tarija hatte es noch 16.30 gegeben!), brachte ich die Zone schnell hinter mir, nur um ernüchtert festzustellen, dass man andernorts gar kein Geld wechseln konnte. Ein Blick in die Online-Kurstabellen des bolivianischen Schwarzmarkts zeigte mir, dass die angebotenen Wechselkurse ohnehin alles andere als skandalös waren und vielmehr die bolivianische Währung an Wert gewonnen hatte (mittlerweile bekommt man für einen US-Dollar sogar nur noch 10 Bolivianos). Also nichts wie zurück zum Spalier.

Ansonsten gab es in der Grenzzone die gleichen langweiligen Märkte mit billigen chinesischen Textilien wie anderswo in Südamerika. Also zog ich wieder los, um die spannenderen Grenzorte zu erkunden. Ich stiess auf die Eisenbahnbrücke, die nun als Fussgängerbrücke dient – zumindest teilweise, denn auf der argentinischen Seite war sie abgesperrt. Nun gelangte ich in die favela-artigen Quartiere, die ich von Argentinien aus gesehen hatte, was sich nicht so gut anfühlte. Nur wenige Leute waren da unterwegs und schauten mich etwas verwundert an. Nach hundert Metern kehrte ich um.

Villazón ist eine echte Grenzstadt, lebendig und reizlos, auch als Grenzfan konnte ich das nicht schönreden. Angesichts der kulinarischen Optionen war ich auf jeden Fall froh, dass ich mich noch in Argentinien verköstigt hatte. Die Mitte bildet ein belebter Platz mit einer pompösen Statue, die an Usbekistan oder Kasachstan erinnert. Ansonsten gibt es nichts zu sehen. Um 17 Uhr schlossen auch schon viele Geschäfte. Die Strassen leerten sich, was dem individuellen Sicherheitsempfinden nicht zuträglich war.

Auf dem Weg zu meiner Unterkunft lockte eine Bar mit auf 4000 Metern über Meer gebrautem Bier aus Potosí. Es wäre durchaus angebracht gewesen, auf diesen spannenden Grenzübertritt anzustossen. Aber ebenso wie er letztlich ohne neue Stempel im Pass blieb, blieb er auch ohne Bier. Denn auch Villazón liegt auf 3500 Metern. Langsam spürte ich leichte Kopfschmerzen, wohl gefördert durch meine ausgedehnten Spaziergänge. Um die Höhenkrankheit nicht unnötig herauszufordern, verschob ich den Bierkonsum auf Potosí (auch eine erlebnisreiche Stadt) und checkte im „Casa Grande“ ein.

Die Reiseführer raten Reisenden für den Fall, dass eine Übernachtung in Villazón/La Quiaca unvermeidbar ist, in Argentinien zu übernachten – die Hotels sind ebenso besser wieder kulinarische Angebot. Dies beherzigte ich nicht, ich bevorzugte die rauhere bolivianische Seite. Nicht meine schlauste Entscheidung: Etwa um 18 Uhr wurde es dunkel, die Strassen leerten sich vollends und das nette ältere Paar, das das „Casa Grande“ bewirtschaftet, riet mir davon ab, nochmals auf die Strasse zu treten. Ohnehin war ich ziemlich erschöpft vom vielen Herumlaufen von beherzigte diesen Ratschlag gern. So sah ich von Villazón letztlich vorwiegend das Innere meines kargen und kalten Hotelzimmers…

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