
Die Zugfahrt endet an der Grenze: die litauische Bahn fährt bis zum Grenzbahnhof Turmantas -aber nicht die 20 Kilometer weiter nach Daugavpils, der zweitgrössten Stadt Lettlands. Aus ÖV-Perspektive ist das natürlich ein Ärger. Er hat mich aber erst auf die Idee gebracht, die Grenze zu Fuss zu überqueren – und es wurde ein Grenzübertritt voller kleiner Highlights. Da wäre es doch schade gewesen, die Strecke gemütlich im Zug zurückzulegen!

Turmantas ist das Ende Litauens. Zwar gibt es täglich sechs Züge von/nach Vilnius, doch bis hierher fährt fast niemand mit. Ausser mir war nur die Frau mit der gelben Jacke noch im Zug, die im Bild ihr Velo aufschliesst, um damit ins Dorf zu fahren. Als ich 2003 in der Region war, war dies noch anders gewesen: Turmantas sah internationale Züge auf der Strecke St. Petersburg – Vilnius – Kaliningrad, und die Regionalzüge fuhren wenigstens bis ins lettische Daugavpils weiter.


Die litauisch-lettische Grenze befindet sich nur 400 Meter vom Bahnhof entfernt. Eine Strasse gibt es hier nicht, nur einen Fusspfad und die Bahnlinie. Rund um diese herum hat die Grenze eine Ausbuchtung, durch welche das litauische Staatsgebiet rund 50 Meter ins lettische hineinragt. Mitten in dieser Ausbuchtung parkierte ein Auto mit litauischem Kennzeichen. In der Ausbuchtung gibt es einen Stromkasten, der offensichtlich litauischer Nationalität ist, und an dem werkelte der Fahrzeughalter in orangem Warngilet herum. Das nervte mich. Ich hatte mich so darauf gefreut, diese abgelegene Grenze für mich allein zu haben. Nun getraute ich mich kaum, zu fotografieren, die nahe belarussische Grenze (nur 10 Kilometer entfernt) weckte in mir die Furcht, wie schon so oft im ex-sowjetischen Raum der Spionage verdächtigt zu werden (besonders die Russen sind echt paranoid, wenn man Objekte fotografiert, die nicht eindeutig Sehenswürdigkeiten (oder Selfies) sind – und ich fotografiere eigentlich nichts anderes).



Der Pfad weiter hinein nach Lettland verläuft entlang der Bahngleise. Matkunci heisst die lettische Grenzstation, die nur aus einem verlassenen Holzhaus besteht, vor dem zerschlissene Sofas herumliegen. Weiter kommt man an einem Bunker vorbei – natürlich, strategische Lage. Nach zwei Kilometern dann der erste lettische Bahnhof, Zemgale. Beziehungsweise das, was nach einer Umnutzung daraus geworden ist: eine orthodoxe Kirche! Das fand ich schon ziemlich überraschend, fallen in Mitteleuropa doch nicht selten Kirchen selbst Umnutzungen zum Opfer…

Zemgale, das erste lettische Dorf, wirkte ungemein beschaulich: eine fast schon skandinavisch wirkende Streusiedlung mit ein paar farbigen Holzhäuschen, manche davon schon arg in die Jahre gekommen und verlassen, andere sehr gepflegt. Am Strassenrand sass eine ältere Frau und grüsste mich. Und überall Ziehbrunnen: ist Zemgale noch gar nicht ans Wassernetz angeschlossen?




Beschwingt und zufrieden mit meinem Einfall, diese abgelegene Grenze zu Fuss zu überqueren, ging ich durch das Dorf. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, dass wohl kaum sonst jemand auf die Idee gekommen wäre, auf diesem tollen Weg nach Lettland einzureisen (wer interessiert sich schon für Grenzen?). Nur zehn Meter weiter wurde ich schon jäh in die Realität zurückgeholt. Ich machte kurz Pause an der Bushaltestelle von Zemgale und fand dort Klebbilder der polnischen Fussballfans von Jagiellonia Białystok sowie eine Filzstift-Aufschrift eines ungeduldigen Österreichers: „Oida wann kommt der Bus?“ Eigentlich auch nicht ganz überraschend. Auch praktisch veranlagte Menschen kommen auf den Gedanken, auf Google Maps Bushaltestellen in Grenznähe zu suchen, wenn der Zug halt nicht weiterfährt. Und von Zemgale aus, nicht einmal eine Halbstunde Fussmarsch von Turmantas entfernt, fahren immerhin vier Busse pro Tag nach Daugavpils. Mit dem ersten Zug aus Vilnius am frühen Morgen (Ankunft Turmantas: 07:51) hat man immerhin beinahe Anschluss mit dem Bus, der um 08:45 von Zemgale nach Daugavpils fährt.


Ich hatte aber den zweiten Zug genommen und zudem Lust, die Grenzregion noch etwas mehr zu entdecken. Darum machte ich es nicht dem Österreicher gleich und wartete auf den Bus, sondern lief in die nächste grössere Ortschaft mit mehr Busverbindungen, das 5 Kilometer entfernte Demene. Es war unglaublich idyllisch, fast schon kitschig: Nur jede Viertelstunde brauste ein Fahrzeug an mir vorbei und zog eine Staubwolke hinter sich her, denn die Strasse war nicht geteert. Den Rest der Zeit hörte ich nur das Zwitschern der Vögel und gelegentlich eine landwirtschaftliche Maschine. Gerade als mir das Marschieren langsam öd wurde, stiess ich auf eine verlassene Kolchose. Natürlich, was hatte an dieser tollen Grenze noch gefehlt? Ein Lost Place!




Ein etwas eigenartiger Brauch ist es, an Lost Places Plüschtiere zu deponieren. Einst hatte mich ein Pferdchen im schweizerischen Sanatorio del Gottardo erschreckt. Auch in Demene konnte man darauf nicht verzichten und drapierte unter anderem einen symbolischen Wachhund an einem der Fenster. Und einen knallrot-giftgrünen Pilz.


Demene ist ein eher unattraktives Dorf mit 300 Einwohnern, die mehrheitlich in Plattenbauten leben, einer schönen Lage zwischen Seen und lauter Relikten der einstigen sozialistischen Landwirtschaft. In Demene gibt es den einzigen Laden weit und breit, wo ich mir einen Snack kaufte, nicht ohne von dem Dorftrunkenbold angelallt zu werden. Kurz darauf kam der Bus, tuckerte durch weitere idyllische Dörfer, wo er ausnahmslos einzelne ältere Damen auflas, und brachte mich ins beinahe grossstädtische Daugavpils.


Die Bushaltestelle in Demene heisst Kultūras nams, die Fahrpläne entnimmt man am besten Google Maps (sie sind aktualisiert). Die Reise von Visaginas nach Daugavpils kostete mich nur 2.50 Euro: Fahrt mit dem Lokalbus zum Bahnhof von Visaginas gratis, Zugbillett Visaginas – Turmantas 0.90 €, weiter zu Fuss nach Demene, Busbillett Demene – Daugavpils 1.60 €.
