Grenzen | Borders

Trostloses baltisches Berlin: die geteilte Stadt Valga/Valka

"Two countries, one city" - mit diesem Slogan wirbt die geteilte Stadt Valga/Valka auf der estnisch-lettischen Grenze. Die Grenzlage wird touristisch ausgeschlachtet, denn sonst gibt es hier nicht viel.

Der Bahnhof von Valka liegt auf der estnischen Seite der Stadt. Er ist der ultimative baltische Grenzbahnhof: Im Bild ist rechts ein Zug aus Litauen sichtbar, rechts einer der estnischen Gesellschaft Elron. Gemeinsam ermöglichen sie seit 2024 eine „transbaltische“ Bahnverbindung: Der litauische Zug startet am frühen Morgen in Vilnius, durchquert Litauen und Lettland und erreicht um 13:51 Uhr Valga, wo schon der orange Anschlusszug in die estnische Hauptstadt Tallinn wartet. Ganz kompatibel sind die baltischen Bahnsysteme offenbar nicht, so dass dieser Umstieg dennoch nötig ist. Ich will aber ohnehin nicht nach Tallinn, sondern in Valga/Valka bleiben, denn das Städtchen wirbt schon am Bahnhof mit dem Spruch „two countries, one city“.

Zum Glück gibt es die Grenze. Schon lange habe ich keine so trostlose Ortschaft mehr gesehen. Ein grosser Teil der Häuser steht leer – kein Wunder: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Einwohnerzahl um etwa einen Dritte zurückgegangen. Immerhin hat jemand auf die meisten Geisterhäuser farbige Katzenköpfe gesprayt. Menschenleere Strassen, Temperaturen um den Gefrierpunkt und eine steife Brise komplettieren den desolaten Eindruck.

Beim Verlassen des Bahnhofs kreuzen mir als erste Vertreter ihrer Stadt zwei Teenager den Weg, die auf ihrem Handy laut den russisch-kaukasischen Evergreen „Tschornye Glaza“ hören, und setzen mir damit einen Ohrwurm ein, der bestens zur Ortschaft passt. Die wenigen Passanten, die mir begegnen, reden ebenfalls Russisch. Im Bahnhof wirbt ein Aushang für Estnischkurse. Auf dem Weg zur Grenze kreuze ich den Friedhof, der Aufschluss über die ethnischen Verhältnisse gibt: mindestens die Hälfte der Gräber ist auf Russisch beschriftet.

Meine Grenzbesichtigung beginne ich am einstigen Überland-Strassenübergang. Auf einer sehr lange zurückliegenden Baltikumreise hatte ich an diesem Grenzübergang noch Stempel in meinen Pass bekommen. Heute sieht er genauso desolat und verlassen aus wie der Rest der Stadt, seit dem Schengen-Beitritt der baltischen Staaten 2007 ist er überflüssig. Heute befinden sich darin ein Alkohol-Shop und ein Hostel. Die Zeiten billigen Alkohols in Estland sind vorbei (ärgerlich für die Finnen), die Esten versorgen sich in Lettland. Zum Glück habe ich vom Hostel erst vor Ort erfahren, sonst wäre ich noch in Versuchung geraten, im Grenzübergang zu übernachten – und hätte deshalb eine ganze Nacht im unwirtlichen Valga/Valka ausharren müssen…

Wie es sich gehört für eine geteilte Stadt, gibt es eine Menge Grenzübergänge an Seitenstrassen. Anders als etwa in Baarle sind diese in Valka/Valga leider nicht fotogen beschriftet, sondern eher Insiderkenntnisse. Man erkennt sie an der sehr auffällig angebrachten Videoüberwachung und an der unterschiedlichen Beschaffenheit des Strassenbelags: der lettische ist schlechter. Vereinzelt findet man immerhin schöne Tafeln mit dem Hinweis, dass man einen Pass mit sich führen soll, wie hier in estnischer und russischer, aber nicht in lettischer und englischer Sprache.

Vielerorts findet man zudem Grenzpfosten, mit den Wappen der beiden Länder auf beiden Seiten und den offiziellen Bezeichnungen, „Eesti Vabariik“ und „Latvijas Republika“. Dieser Quartier-Grenzübergang ist wohl der liebenswerteste in der ganzen Stadt, gelegen zwischen der Grenzstrasse (Piiri) des estnischen Valga und dem Friedhof des lettischen Valka.

Im Stadtzentrum wird die Grenze dann touristisch deutlich mehr in Szene gesetzt. Es gibt eine Schaukel, die sich auf einer Brücke direkt über dem Grenzbächlein Varžupīte/Konnaaja befindet. Man kann so zwischen Estland und Lettland hin- und herschaukeln. Auch einen Skatepark gibt es. Vor einigen Jahren ging ein Video viral, in dem jemand mit dem Skateboard über die Grenze springt – tatsächlich liegt der Park aber nicht direkt auf der Grenze, sondern auf der estnischen Seite. Die lettische Seite hingegen bietet einen Minigolfpark, auf dem man vermeintlich bei jeder Bahn über die Grenze spielen kann.

Highlight und Selfiepunkt ist die kleine Brücke mitten im Stadtzentrum mit einem kleinen, alten Kontrollhäuschen, dem Ortsnamen in beiden Sprachen und üppiger Beflaggung. Doch warum verläuft die Grenze überhaupt mitten durchs Zentrum? Der Grund dafür ist ein Grenzkonflikt, der so wenig bekannt ist, dass selbst ich Grenzfreak erst am Vorabend meiner Anreise darauf stiess. Kurz zusammengefasst: Die estnisch-lettische Grenze entstand erst durch die Unabhängigkeit der beiden Länder nach dem ersten Weltkrieg, zuvor hatten Nord-Lettland und Süd-Estland beide zum russischen Gouvernement Livland gehört. Die beiden neuen Länder waren sich einig, Livland entlang ethnischer Grenzen aufzuteilen. Aber wie fast immer in solchen Fällen war man sich nicht einig, wo genau diese Grenzen verliefen – ganz besonders in der ethnisch gemischten Stadt Valga/Valka und auf der Ostseeinsel Ruhnu. Beinahe wäre es zu einem bewaffneten Konflikt gekommen. Glücklicherweise besannen sich die Balten und ernannten einen neutralen Briten, der die Grenze ziehen sollte. Neutral wie er war, teilte er die Stadt einfach auf. [Klammerbemerkung: warum immer die Briten? Später bekleckerten sie sich nicht gerade mit Ehre, als es um die Grenzen Eritreas oder Indiens ging…].

Als meine Finger zu klamm wurden zum fotografieren verzog ich mich ins Café Walk, das ganz knapp auf der lettischen Seite der Grenze liegt. Es ist wohl das gemütlichste Ort der Stadt. Benannt ist es nach dem alten deutschen Namen der Stadt.

Zum Schluss ging ich noch noch zum Eisenbahn-Grenzübergang, quer durch ein Quartier, in dem mich die Hunde grenzüberschreitend anbellten (im Gegensatz zur Polizei endet deren Zuständigkeit nicht an der Grenze). Im Bild hier ist eine Nebenstrecke, die auf der lettischen Seite (hinten) offenbar deutlich weniger gut im Schuss ist als auf der estnischen (vorne). Ein paar Meter davon entfernt ist die eigentlich genutzte Bahnlinie, aber der dortige Grenzpunkt ist weniger fotogen.

Auf dem Rückweg an den Bahnhof kam ich dann doch noch durch die zentralen Strassen, die ich bis dahin links liegen gelassen hatte. Der Platz rund um die Jaani kirik (Johanneskirche) wäre eigentlich richtig sehenswert. Er besteht aus schon fast skandinavisch wirkenden, farbigen Holzhäusern. Aber auch hier: fast alle leerstehend (aber ohne aufgesprayte Katzenköpfe). Kein Mensch in Sicht an diesem Samstagnachmittag. Ich war nicht unglücklich, um 17:39 Uhr den letzten Zug nach Tartu zu nehmen, wo es genauso kalt war wie in Valga, abgesehen davon aber deutlich angenehmer…

Hinterlasse einen Kommentar