Baarle befindet sich im Süden der niederländischen Provinz Noord-Brabant bzw. im Norden des belgischen Landesteils Flandern und hat offiziell zwei Ortsnamen: Der niederländische Teil heisst Baarle-Nassau, der belgische Baarle-Hertog.

Doch im Gegensatz zu anderen Doppelstädten verläuft die Grenze in Baarle nicht etwa in einem Fluss in der Ortsmitte, sondern windet sich in kaum nachvollziehbarer Weise durch Häuser, Läden, Restaurants und Industriegebiete. Die belgische Ortschaft Baarle-Hertog besteht aus 22 Exklaven, umgeben von niederländischem Gebiet. In diesen befinden sich wiederum acht niederländische Konter-Exklaven. Schwer vorstellbar? So sieht das auf dem Stadtplan aus:

Wie merkt man also überhaupt, in welchem Land man sich befindet? Die Einheimischen kennen die Grenzen natürlich, wie mir Johan aus Baarle-Nassau verriet (mehr über ihn später). Für die Gäste der Stadt aber, die nicht selten genau wegen der vertrackten Grenzsituation anreisen, ist der Grenzverlauf mit weissen Kreuzen im Strassenpflaster eingezeichnet, oft begleitet von den Länderkürzeln BE und NL. An jedem Laternenpfahl befindet sich zudem ein Aufkleber mit der Landesfahne und dem Text „Du befindet dich in den Niederlanden“ bzw „in Belgien“.

Doch damit nicht genug: Selbst in den Hausnummern findet man kleine Fahnen. Denn nicht selten gehören die Häuser in einer Strassenzeile verschiedenen Ländern an. Und unpraktischerweise vergeben die beiden Länder die Hausnummern nach einem unterschiedlichen System: In den Niederlanden haben alle Häuser einer Strassenseite gerade, auf der anderen ungerade Nummern (also gleich wie in der Schweiz) – die Belgier hingegen nummerieren benachbarte Häuser einfach aufsteigend. Dies ergibt ein ziemliches Chaos in Strassen, welche die Grenze fünfmal überqueren.


Lustigerweise hat man beim Bau der Stadt – auch der neueren Häuser – keinerlei Rücksicht auf die Staatsgrenzen genommen. So kommt es, dass die Grenze mitten durch viele Häuser geht. Auf einem niederländischen Sofa fernzusehen, während der Fernseher in Belgien steht, gehört in Baarle zum Alltag. Es soll sogar Paare geben, deren Bett von der Grenze zerschnitten wird. Sehr sympathisch fand ich das Beispiel des Getränkehandels «de Biergrens» (die Biergrenze), in dem die Staatsgrenze auf dem Boden zwischen den Bierregalen eingezeichnet ist.

Immerhin haben die niederländischen und belgischen Behörden eine pragmatische Lösung für die Häuser gefunden, welche auf der Grenze selbst stehen: Die «Haustür-Regel». Sie besagt, dass die Haustür definiert, zu welchem Land ein Haushalt zählt. Wenn die Haustür in Belgien liegt, zahlt man dort Steuern und geht dort in die Schule, selbst wenn das gesamte restliche Grundstück niederländisch ist.
Es wäre aber nicht Baarle, wenn es nicht auch ein Haus gäbe, bei dem die Grenze mitten durch die Haustür geht. Es befindet sich an der Adresse Loveren 2 bzw. Loveren 19, denn es hat zwei Hausnummern, eine niederländische und eine belgische. Aber damit nicht genug: Die belgische Haushälfte gehört zur weltweit kleinsten Exklave, die den prosaischen Namen H7 trägt (alle Exklaven tragen den Buchstaben H oder N und eine Nummer). Das geteilte Haus in H7 ist sowas wie eine Touristenattraktion, an schönen Wochenendtagen muss man dort anstehen, um ein Selfie machen zu können. Und die Bewohner? Sie durften selbst auswählen, zu welchem Land sie lieber gehören wollten.

Nachdem ich auch selbst für ein Selfie posiert hatte, war mein Grenzrundgang (ja, sowas gibt’s, die Touristeninformation verteilt sogar Prospekte dazu) zu Ende. Es war heiss und ich war erschöpft und wollte im Hotelzimmer an bester Lage im Stadtzentrum ein Nickerchen einlegen. Aber ich hatte die Rechnung nicht mit dem Zomerfesten op de Grens, dem Sommerfest an der Grenze, gemacht. Eigentlich sollte mich ein solches Grenzfest ja erfreuen. Aber nicht, wenn dabei eine Bühne direkt vor meinem Hotelzimmer aufgebaut wird und ohrenbetäubender Live-Schlager in holländischer Sprache dröhnt. Während die Baarler von beiden Seiten auf ihrem zentralen Grenzabschnitt schunkelten, ergriff ich die Flucht in die zweitgrösste belgische Exklave H8, in der sich die Brauerei De Dochter van de Korenaar befindet.

Ich bestellte mir ein Bier und bald kam ich ins Gespräch mit Johan. Johan war nicht nur ein Einheimischer, er war sogar der amtierende Karnevalsprinz Johan I und darüber hinaus fast so begeistert von absurden Grenzverläufen wie ich. Wie könnte es auch anders sein, als Einwohner dieser Stadt? Johan kam schnell ins Erzählen. Die Brauerei, so erklärte er, sei trotz niederländischer Besitzer in der belgischen Exklave, weil hier die Reglemente für die Gründung einer Brauerei sehr viel lascher seien als in den Niederlanden. Darüber hinaus mache es sich auch nicht schlecht, sein Bier «Made in Belgium» nennen zu dürfen.

Aber nicht immer sei eine Lage in Belgien von Vorteil. Während der Lockdowns der Corona-Pandemie etwa habe die nächtliche Ausgangssperre in Belgien deutlich früher begonnen als in den Niederlanden. Wenn er in dieser Zeit Freunde besucht habe, habe er auf dem Heimweg aufpassen müssen, nicht aus Versehen auf der falschen, belgischen Strassenseite zu gehen. Weiter habe Belgien eine restriktivere Definition angewandt, welche Läden als «essenziell» galten und deshalb geöffnet bleiben durften. In Baarle habe dies zur Folge gehabt, dass das Billigtextilgeschäft Zeeman die belgische Hälfte der Ladenfläche absperren musste – darum habe es plötzlich nur noch Herren-, aber keine Damenunterwäsche mehr zu kaufen gegeben. Das war so absurd, sogar die New York Times berichtete.

Nach drei Runden Bier fand Johan, nun müsse er mir unbedingt die absurdesten Grenzverläufe der Stadt zeigen. Und das war kein leeres Versprechen. Was er mir zeigte, war aber so verrückt, dass es einen eigenen Blogeintrag verdient – den Teil 2 dieses Beitrags über Baarle-Hertog/Baarle Nassau.