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Dark Tourism: Ein 525 Meter tiefes Loch in der sibirischen Erde

Im einsamen Nordosten Sibiriens befindet sich eines der grössten und eindrücklichsten Löcher der Erde: Der Diamanten-Tagebau von Mirnyj. Er liegt mehrere Tagesreisen von der transsibirischen Eisenbahn entfernt, in der autonomen Republik Jakutien. Eine Fotoreportage.

525 Meter tief ist die „Mir“-Mine in Mirnyj. Damit reiht sie sich in die Rekordliste der tiefsten von Menschen gegrabenen Löcher der Welt ein. Folgende habe ich gefunden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

🇺🇸 1210 Meter: Bingham Canyon Mine, Utah, USA
🇨🇱 850 Meter: Chuquicamata, Antofagasta, Chile
🇵🇪 700 Meter: Toquepala, Tacna, Peru
🇷🇺 650 Meter: Udatschnaja, Republik Sacha-Jakutien, Russische Föderation
🇷🇺 525 Meter: Mir (Mirnyj), Republik Sacha-Jakutien, Russische Föderation
🇷🇺 500 Meter: Korkino, Oblast Tscheljabinsk, Russische Föderation

Natürlich beanspruchen gleich mehrere davon, das tiefste Loch überhaupt zu sein. Mirnyj tut dies nicht – vielleicht weil die tiefere Udatschnaja-Mine zum gleichen Unternehmen gehört. Dafür ist die Grube „Mir“ die zugänglichste von all diesen Löchern. Vor Jahren habe ich mich auf die Reise dorthin gemacht.

Die Anreise ist auch in Mirnyj beschwerlich. In weiten Teilen der Republik Jakutien gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, oft nicht einmal Strassen oder Brücken. Dabei sind die Distanzen riesig. Auf den sandigen Überlandpisten verkehren Sammeltaxis, die anders als im Rest der Ex-Sowjetunion keine festen Abfahrtspunkte haben. Vielmehr muss man die Telefonnummer des Fahrers kennen, seine nächste Abfahrtszeit in Erfahrung bringen und dann einen Preis und einen Abholpunkt vereinbaren.
Da es keine Brücken gibt, gelangt man nur mit Fähren über die Flüsse. Meist sind dies klapprige Metallflosse mit einem Motorboot als Antrieb. Manche fahren einmal in der Stunde, anderen nur zwei- oder dreimal pro Tag. Entsprechend langsam kommt man vorwärts. Aus der Hauptstadt Jakutsk reisten wir durch das Bülüü-Tal mit Sammeltaxis bis nach Mirnyj, wobei die Reisezeit allein drei Tage beanspruchte.
Wegen der schlechten Strassenverhältnisse bleiben die Sammeltaxis manchmal im Schlamm stecken. Jede Fahrt war ein Erlebnis. Im Bülüü-Tal leben fast nur Jakuten, Kultur und Sprache sind komplett anders als in Russland. Als Ausländer fielen wir auf und kamen ständig ins Gespräch mit neugierigen Einheimischen. Dazu lief permanent jakutische Popmusik, die uns die Sprache näherbrachte. Die Fahrer ersetzten die Reiseführer, die es für diese Gegend nicht gibt: Sie halten uns, Unterkünfte, Essen und Möglichkeiten zur Weiterreise zu finden.

Die Republik Sacha-Jakutien (auf der Landkarte gelb eingezeichnet) ist eine Teilrepublik Russlands mit weitreichenden Autonomierechten. Jakutien ist etwas so gross wie Westeuropa, hat aber nur knapp eine Million Einwohner. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen sind Jakuten, deren Sprache zusammen mit dem Russischen Amtssprache ist. Jakutisch ist eine Turksprache, aber von dem Türkischen so weit entfernt, dass eine gegenseitige Verständigung unmöglich ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es in Jakutien separatistische Tendenzen, die sich mittlerweile gelegt haben: Man spürt ohnehin, dass Moskau weit weg ist. Besonders der Umgang mit der Bürokratie ist deutlich relaxter als im restlichen Russland.

Die Minenstadt Mirnyj ist eine russisch geprägte Stadt. Sie gehört zu den reichsten Ortschaften Russlands und ist sauteuer: Bei meinem Besuch war das Preisniveau etwa vergleichbar mit Zürich. Dies liegt natürlich daran, dass alle Lebensmittel über Tausende Kilometer angeliefert werden müssen. Trotz ihres Reichtums ist die Stadt so unansehnlich wie andere Industriestädte im postkommunistischen Raum. Plattenbauten und farbige Holzhäuser prägen das Ortsbild. Wegen des Permafrosts stehen sie alle auf Stelzen.
Es gibt auch schönere Ecken, wie dieser Platz mit einer orthodoxen Kirche, die eindeutig in der postkommunistischen Ära entstanden ist. Wahrscheinlich hat die Firma Alrosa sie gesponsert. Dem grössten Diamantenproduzenten Russlands scheint in Mirnyj alles zu gehören, das Logo prangt auf fast jedem öffentlichen Gebäude.
Zur Zeit unserer Reise gab es nur ein richtiges Hotel, dessen Zimmerpreise jenseits der 300 US-Dollar pro Nacht lagen. Besonders luxuriös sah es nicht aus, es war wohl für die Geschäftsleute im Rohstoffhandel gedacht. Wir machten es wie die Einheimischen und die Lastwagenfahrer und mieteten uns ein Zimmer in einer Privatwohnung, die immer noch 100 Franken pro Nacht kostete. Das Treppenhaus sah wenig einladend aus…
Nun aber endlich zur Mine „Mir“. Sie ist seit 2004 nicht mehr in Betrieb. Erwartungsgemäss steht am Eingang zum Grubenareal ein Schild, dass der Zutritt verboten ist. Aber es ist nur ein Schild, es gibt keinen Zaun und auch keinen Wachdienst, der einen vom Betreten abhält. Vielleicht ist das mittlerweile anders. Ich habe den Eindruck, Russland wird immer unlockerer, was das Betreten zerfallender Industrieanlagen anbelangt. Schade! Aber im fernen Jakutien war die Lage vor ein paar Jahren noch entspannt, wir waren nicht die einzigen Unbefugten im Areal. Es gibt sogar eine Aussichtsplattform.
Leider hatte ich kein Weitwinkelobjektiv dabei, um die eindrücklichen Ausmasse der Grube einigermassen wiederzugeben. Aber die Wohnblocks der Stadt Mirnyj im Hintergrund lassen die Dimensionen ungefähr erahnen. Mehr als einen halben Kilometer tief ist das Loch An der Erdoberfläche beträgt ihr Durchmesser 1200 Meter, an der tiefsten Stelle 300 Meter. Wir warfen ein paar Steine hinunter, erreichten aber den Grund nicht.
Die von Menschen über Jahrzehnte geschaffene Grubenlandschaft sieht bizarr aus. Leider ist es nicht möglich (bzw. zumindest nicht anzuraten), in die Grube hinabzusteigen – wäre sicher eine spannende Perspektive.
Der Diamantenabbau begann 1955, zwischen 2004 und 2009 wurde die Mine nach und nach stillgelegt.
Einst führte eine spiralförmige Strasse auf den Grund des Tagebaus. Sie war 7.7 Kilometer lang.
Hinter der Stadt Mirnyj betreibt die Firma Alrosa weitere Minen, aus denen nach wie vor Erz gefördert wird. Anders als die Grube „Mir“ erfolgt dies aber im Untertagebau, also in tiefen Schachten.
Zur Abreise ab Mirnyj nutzten wir erst ein weiteres Sammeltaxi bis nach Lensk am riesigen Strom Lena. Dort endet das jakutische Strassennetz. Weiter geht  es nur auf dem Flussweg: Mit Katamaranen fuhren wir zwei Tage lang Flussaufwärts via Peleduj nach Ust-Kut im russischen Teil Sibiriens. Dem Schild nach zu urteilen, hat sich der Fahrplan auf dieser Schiffslinie schon seit längerer Zeit nicht mehr verändert. Heute (Stand 2022) gelten offenbar andere Fahrzeiten, aber die Schiffe verkehren weiterhin.
Peleduj war unsere letzte Station in Jakutien. 4500 Leute leben hier ohne Anbindung ans Strassennetz an der Lena. Eine halbe Tagesreise mit dem Schiff ist Lensk in Jakutien entfernt, einen ganzen Tag das russische Ust-Kut. Durchgehende Schiffe von Lensk nach Ust-Kut gibt es nicht, so mussten wir die Nacht in Peleduj verbringen. Hotels gibt es dort nicht, aber auf Anraten des Schiffspersonals fanden wir ein Zimmer im Wohnheim der Seefahrer. Im Winter kann man Peleduj übrigens auf dem Landweg erreichen: Dann gibt es Avtozimniki, provisorische Wintertrassen auf dem Schnee, auf denen Lastwagen verkehren.

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