Am 15. Mai 2020 kündigte der Bundesrat an, die Corona-bedingten Grenzbarrikaden zu Deutschland und Österreich zu entfernen. Am gleichen Abend fiel der doppelte Zaun zwischen Kreuzlingen und Konstanz, unschönes Symbol der Corona-Grenzschliessung. Derweil weitete der Bundesrat die Kategorien der Personen, welche die Grenze überschreiten dürfen, nur ein kleines bisschen aus: Neu ist es auch unverheirateten Paaren erlaubt, sich zu sehen. Und Rösseler dürfen ihre Pferde im Nachbarland bewegen.
Ich verstand nicht, wie das zusammenpassen konnte. Keine Grenzkontrollen oder Barrikaden mehr, aber dennoch dürfen nur ganz wenige Leute die Grenze überqueren? Wer setzt das denn durch, und wie? Darum bin ich nach Basel gefahren. Im Umland von Basel gibt es massenhaft Grenzübergänge – grosse und kleine Grenzübergänge, grüne Grenzen. Darüber hinaus Kuriositäten wie die „Eiserne Hand“, die schweizerische Landzunge, die zwischen Lörrach und Inzlingen in deutsches Gebiet hineinragt.
Wie ist also die aktuelle Lage – nach der sanften Öffnung vom 15. Mai 2020, aber noch vor der Rückkehr zur Schengen-Normalität, die nach Plan am 15. Juni 2020 eintreten soll?
Am Grenzacher Horn, zwischen Kleinbasel (CH) und Grenzach-Wyhlen (DE), alles beim Alten: Alle passierenden Fahrzeuge und sogar Velofahrer werden angehalten, befragt. Wer in die berechtigte Kategorie fällt, darf passieren. Alle anderen müssen umkehren (nehme ich an, ich habe es nicht überprüft). Eigentlich logisch: Dies ist einer der grösseren Grenzübergänge, die auch schon vor dem 15. Mai offen waren. Das Regime hat sich ja nicht geändert.
Erst seit dem 15. Mai geöffnet ist der viel kleinere Übergang von Riehen (CH) nach Inzlingen (DE). Und siehe da: Keine Kontrolle, weder auf schweizerischer noch auf deutscher Seite. Es gibt auch keine Hinweise, dass man den Grenzübergang nicht überqueren darf. Velofahrer, Autos, Busse passieren völlig ungehindert. Als hätte es die Grenzsperre nie gegeben. Etwas weiter, im Wald, begegne ich einer GWK-Patrouille, ich habe sie aber nicht fotografiert. Sie sagten nur freundlich „Grüezi“, aber ich machte auch keine Anstalten, die Grenze zu überqueren.
Auf dem Hügel zwischen Bettingen (CH) und Grenzach (DE) versucht dieses kryptische Schild weiterhin, Wanderer vom Grenzübertritt abzuhalten. Nicht mit sehr viel Nachdruck allerdings: Es gibt keine physischen Sperren, wie ich sie im Rheintal gesehen hatte, und ein bisschen weiter führt auch der schweizerische Wanderweg ohnehin ein paarhundert Meter über deutsches Territorium.
Im Basler Park Lange Erlen am Wiese-Fluss zweigen immer wieder Wege und Strässchen nach Weil am Rhein (DE) ab. Die Grenze kann man hier am unterschiedlichen Strassenbelag erkennen. Das Schild musste ich dann fast als explizite Aufforderung verstehen, doch mal auf die andere Seite der Grenze zu schauen: „Grenzüberschreitender Wanderweg. Fuss- und Radwanderern ist der Grenzübertritt bei Tage gestattet.“ Keine Barrikaden, keine Warnungen.
Auf der anderen Seite des langgezogenen auch auch eher langweiligen Dorfs Weil am Rhein (DE) ist die nächste Grenze zur Schweiz, und die sah schon ein wenig spezieller aus. Am Boden lag hier noch Absperrband mit der Aufschrift „Sperrzone GWK“ in drei Sprachen, dahinter eine geschlossene Schranke – und der Hinweis, dass man hier Weil-Ost verlasse, wohl eine Anspielung auf die DDR.
Etwas weiter unten am gleichen Hügel verläuft die Grenze mitten durch ein Wohnquartier. Die Anwohner im Schlipf (DE/CH) haben hier offensichtlich selbst Hand angelegt bei der Beseitigung der lästigen Restriktionen. Der Schlipf hat eine spezielle geostrategische Lage. Er gehört zur Schweizer Gemeinde Riehen BS, liegt aber auf einem Hügel zwischen den grösseren deutschen Ortschaften Weil am Rhein und Lörrach. Das ist für diese Ortschaften unpraktisch, und darum haben sie den Kanton Basel-Stadt jahrelang bekniet, eine eigene Verbindungsstrasse am Talboden unter dem Schlipf bauen zu dürfen.
2013 wurde die Zollfreistrasse von Weil nach Lörrach schliesslich eröffnet. Natürlich gehört sie völkerrechtlich zur Schweiz, strassenverkehrsrechtlich aber zu Deutschland; darüber hinaus ist sie nicht ans schweizerische Strassennetz angeschlossen. Ein Teil verläuft oberirdisch und ist weiträumig abgesperrt, der Rest in einem Tunnel. Auf diesem Tunnels haben die Riehener ein neues Freibad gebaut. So kann man dort jetzt in der Schweiz schwimmen, während ein Stock tiefer Autos in Deutschland fahren.
Parallel zur Zollfreistrasse verläuft ein Feldweg, der auch zur Grenze nach Lörrach-Stetten (DE) führt. Die Gitter der Absperrung stehen noch da, aber sie versperren die Strasse nicht mehr. Ich sah ständig Jogger und Velofahrer die Grenze überqueren. Dieser Ort illustrierte deutlich das aktuelle de facto-Grenzregime: An den grösseren Grenzübergängen gelten die Corona-Regeln weiterhin. An der grünen Grenze hingegen wird der kleine Grenzverkehr zu Fuss oder mit Velo eindeutig toleriert. Das finde ich sinnvoll: Die Corona-Infektionsraten sind beiderseits der Grenze ähnlich gering, die eng verbundene Grenzregion hat wieder grenzüberschreitenden Kontakt, Einkaufstourismus und andere derzeit unerwünschte Erscheinungen bleiben aber weiterhin nicht möglich. Und ich bin natürlich auch sehr glücklich, dass ich endlich wieder Grenzen bereisen kann!
Gleich hinter dem offiziellen Grenzübergang Riehen (CH) – Lörrach (DE) dann diese kleine Überraschung: Deutschland hat offenbar weg von der EU ins kommunistische Lager gewechselt.
Herrlich: Die Tristesse der Grenzorte – man darf wieder hin 🙂
Etwas zynisch mutet dieser Werbeslogan des Hornbach-Baumarkts an, dessen meiste Kunden wohl Schweizer sind – denn Einkaufstourismus ist weiterhin nicht erlaubt und wird meines Wissens auch tatsächlich nicht toleriert.
Ein erster Hinweis, dass in Deutschland jetzt einiges anders läuft als in der Schweiz: Es gilt Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und in den Läden. Und die Leute halten sich auch tatsächlich daran. In den Basler Drämmli tragen 5-10% der Passagiere einen Mund-Nasen-Schutz – gleich über der Grenze sind es 100%. Sogar im Supermarkt, wenn oft nur selbstgemachte Masken. Die ganzen Corona-Massnahmen sind in Deutschland weit offensichtlicher und präsenter als in der Schweiz, wo bereits jetzt eigentlich alles wieder ausschaut wie vorher, vielleicht mit Ausnahme der vermehrten Präsenz von Desinfektionsmitteln. Aber irgendwie dennoch entspannter: Man muss sich nie Gedanken dazu machen, wo Schutz sinnvoll ist und wo nicht.
Was mich beim Überqueren von Grenzen immer fasziniert sind die Dinge, die schon auf dem ersten Kilometer im neuen Land anders sind. Jeder Grenzübertritt wird so zu einer Umstellung, zu einem Entdecken von Neuem. Dieses Gefühl war in den letzten 20 Jahren in Mitteleuropa verloren gegangen. Gerade Deutschland und Österreich unterscheiden sich in den Grenzgebieten kaum mehr von der Schweiz, ausser vielleicht im gehäuften Auftreten von China-Restaurants und Baumärkten. Doch Corona hat dies relativiert: Die Grenzen sind wieder sichtbar, und der Alltag ist spürbar anders. Für den Moment finde ich das spannend zu beobachten. Ich bin dann aber nicht traurig, wenn wir mit unseren Nachbarn wieder näher zusammenrücken.
Meine Grenzwanderung führte mich weiter in die Eiserne Hand, ein Gebietszipfel der Schweiz, der absurd weit nach Deutschland hineinragt und die Ortschaften Lörrach und Inzlingen voneinander trennt. Neben dem speziellen Grenzverlauf ist die Eiserne Hand für seine historischen Grenzsteine bekannt. Aber davon ein ander Mal, vielleicht im nächsten Blogeintrag.